Der verhüllte Reichstag im Sommer 1995 war weit mehr als ein Kunstprojekt: Es war der Moment, in dem Berlin seine neu gewonnene Freiheit auf sehr besondere Art und Weise feierte – und die Welt schaute zu. Die außergewöhnliche Kunstaktion trug zur Entwicklung eines neuen Berliner Selbstbewusstseins bei und rückte die historische Bedeutung des Gebäudes erneut ins Rampenlicht.

Künstler Christo bei einem gemeinsamen Pressetermin mit Rita Süssmuth im Jahr 2013. / © Foto: IMAGO / Eventpress

© Foto Titelbild: Wikimedia Commons
Text: Björn Leffler

 

ENTWICKLUNGSSTADT REIHE: 35 Jahre Mauerfall
Teil 3: Die Verhüllung des Reichstags 1995

Im Sommer 1995 verhüllte das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude das Berliner Reichstagsgebäude. Es wurde ein Berliner Sommermärchen, welches die Blicke der Welt für einige Wochen auf die noch junge Bundeshauptstadt lenkte und rund um das verhüllte Gebäude eine außergewöhnliche, begeisternde Atmosphäre entstehen ließ.

Es war sozusagen der Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Epoche, in der das Reichstagsgebäude in einen Dornröschenschlaf verfallen war, nachdem es durch Kriegsschäden und die Teilung Berlins zur Bedeutungslosigkeit verdammt war. Nach der geglückten Wiedervereinigung im November 1989 und dem folgenden 3. Oktober 1990 sollte dem Gebäude zukünftig wieder eine gänzlich neue Rolle zufallen, als Sitz des bundesdeutschen Parlaments.

Berlins neues Regierungsviertel: Modernisierung des Reichstagsgebäudes sollte 1995 starten

Dafür sollte das Gebäude umfassend umgebaut und modernisiert werden. Architekt Norman Foster setzte sich in einem 1993 ausgelobten Gestaltungswettbewerb durch, der Umbau sollte direkt nach der Verhüllungsaktion im Sommer 1995 beginnen und 1999 abgeschlossen werden, was letztlich auch genauso geschah. Am 8. September 1999 trat der Bundestag erstmals im neuen Plenarsaal des Reichstagsgebäudes zusammen.

Der zu verhüllende Reichstag des Sommers 1995 präsentierte sich also noch in dem Zustand, in dem er sich mehrere Jahrzehnte, direkt an der Berliner Mauer liegend, befunden hatte. Ohne Kuppel, notdürftig wiederhergerichtet und deutlich sanierungsbedürftig. Der Faszination des Gebäudes und vor allem natürlich seiner tiefen Symbolik hatte dies jedoch nichts anhaben können.

Verhüllung des Reichstags: Ringen um die Umsetzung des Projekts seit den 70er Jahren

So wurde die Wiese vor dem Reichstagsgebäude nicht nur gern von Ausflüglern und Hobbyfußballern genutzt, sondern war zudem eine beliebte Konzert-Location. Barclay James Harvest, David Bowie, Genesis, Michael Jackson – sie alle traten in den 80er Jahren vor dem Reichstagsgebäude auf – und ließen auch die Fans in Ost-Berlin mithören, wenn es die dortige Staatsgewalt denn zuließ.

Deutlich weiter zurück ging die erste Anfrage des Künstlerpaars Christo und Jeanne-Claude, ob es nicht möglich wäre, das Reichstagsgebäude im Rahmen einer Kunstaktion für mehrere Wochen verhüllen zu können. Bereits Mitte der 1970er Jahre entstand die Idee dafür. In diesem Zeitraum wurde in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn erstmals die Umsetzung eines solchen Projekts erörtert.

Rita Süssmuth ebnete den Weg für die Kunstaktion von Christo und Jeanne-Claude

Bis das Projekt jedoch wirklich umgesetzt werden konnte, vergingen Jahrzehnte. Am Ende war es die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die den Weg für das Projekt ebnete, obwohl selbst Kanzler Helmut Kohl gegen die Verhüllungsaktion war.

Zu groß schien Mitte der 1990er Jahre noch die Angst vor einer Überhöhung oder unangemessenen Verherrlichung der deutschen Geschichte zu einem Zeitpunkt, da die Alliierten gerade erst aus Berlin abgezogen waren und das Land sich in einem schwierigen Transformationsprozess befand.

Magischer Sommer 1995: Die Berlinerinnen und Berliner nahmen die Aktion ohne Vorbehalte an

Dass diese Sorgen unbegründet waren, zeigte der Sommer 1995. Denn die Verhüllung des Reichstagsgebäudes gilt gemeinhin als Startpunkt eines völlig neuen Berlin-Gefühls und einer veränderten Wahrnehmung dieser lange geschundenen und geteilten Metropole. Vom 24. Juni bis zum 7. Juli war das Gebäue vollständig umhüllt und wurde jeden Tag von hunderttausenden Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt bestaunt.

Die Stimmung rund um das silbern glänzende, eingewickelte Parlamentsgebäude war so ausgelassen und elektrisierend, dass es wie ein Versprechen auf das wirkte, was Berlin irgendwann einmal wieder sein könnte – eine faszinierende, mitreißende Metropole.

 

Um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Verhüllung des historischen Gebäudes vor rund 29 Jahren ablief und welche Stimmung rund um das verpackte Gebäude in den Wochen der Verhüllung war, gibt es im Netz einige sehenswerte Videos. Die ENTWICKLUNGSSTADT BERLIN Redaktion hat einige dieser Videos zusammengestellt:

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