Im Mai 1945 liegt Berlin in Trümmern. Der 13-jährige Axel Gebhard erlebt die letzten Tage des Krieges in Zehlendorf. Im Podcast „Tagesanbruch – Die Diskussion“ erinnert sich der heute 93-Jährige an Gewalt, Angst – und Menschlichkeit. Seine Erlebnisse sind ein eindrucksvolles Zeugnis der Stunde Null.
Hinweis: Der folgende Artikel enthält Schilderungen von Gewalt, sexuellen Übergriffen und Kriegsereignissen, die belastend oder retraumatisierend wirken können.
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Als sich im Frühjahr 1945 die Frontlinien immer näher an Berlin heranschoben, lag die Stadt bereits in weiten Teilen in Trümmern. Bombenangriffe hatten ganze Straßenzüge zerstört, die Infrastruktur war zusammengebrochen, der Alltag der Zivilbevölkerung ein Kampf ums Überleben. In dieser Atmosphäre aus Angst und Unsicherheit lebte der 13-jährige Axel Gebhard mit seiner Familie im Südwesten Berlins, in Zehlendorf.
In der Podcast-Reihe „Tagesanbruch – Die Diskussion“ von t-online erzählt der heute 93-Jährige eindrücklich, wie er die letzten Tage des Dritten Reichs erlebt hat. Es ist ein Bericht, der aufrüttelt – weil er Erinnerungen festhält, die bald niemand mehr aus erster Hand erzählen kann.
April 1945: Die Rote Armee marschiert in Zehlendorf ein
Am 24. April 1945 erreichten die ersten Einheiten der Roten Armee den Stadtteil Zehlendorf. Gebhard erinnert sich, wie sowjetische Soldaten Häuser durchsuchten – zunächst auf der Suche nach deutschen Soldaten, später auf der Jagd nach Wertgegenständen. Viele Menschen hofften, mit dem Einmarsch sei das Schlimmste überstanden. Doch das Gegenteil trat ein.
Gebhard berichtet im Podcast von der Gewalt, die in den folgenden Tagen über die Zivilbevölkerung hereinbrach. General Schukow hatte seinen Truppen eine Woche lang freie Hand gelassen. Es kam zu systematischen Plünderungen, Übergriffen und Vergewaltigungen – auch im Umfeld der Familie Gebhard. Eine junge Hausangestellte wurde mehrfach missbraucht. Für den Jungen war das ein traumatisches Erlebnis, das ihn zeitlebens prägte.
Berlin im Mai 1945: Das mühsame Ausharren im Luftschutzkeller
In diesen Tagen zog sich die Familie weitgehend in den Luftschutzkeller zurück. Das Haus wurde von einem sowjetischen Offizier beschlagnahmt, der sich – entgegen vielen Erfahrungen – respektvoll verhielt. Er sprach Deutsch, organisierte Essen, behandelte die Familie korrekt. Diese Begegnung bleibt Gebhard ebenso im Gedächtnis wie die Hilfe eines muslimischen Soldaten, der ihm ein Fahrrad schenkte – ein unerwarteter Akt der Menschlichkeit in dunklen Zeiten.
Solche Momente zeigen, dass die Realität komplexer war, als es einfache Narrative von „Freund“ und „Feind“ nahelegen. Sie zeigen auch: Die Wahrnehmung des Krieges war selbst für Jugendliche von einer Mischung aus Angst, Verzweiflung und gelegentlicher Hoffnung geprägt.
Die Stunde Null am 8. Mai 1945: Vom Überleben zum Neuanfang
Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 endete der Krieg in Europa. Für Berlin begann damit der Neuanfang – auf den Trümmern eines untergegangenen Regimes. Die Stadt wurde unter den Alliierten aufgeteilt, die Versorgungslage blieb katastrophal. Doch mit der Ankunft amerikanischer Truppen am 3. Juli änderte sich einiges: Mit ihnen kam dringend benötigtes Penicillin.
Axel Gebhard, der an einer schweren Entzündung litt, verdankte der Medizin sein Leben – ebenso wie seine Eltern. Es sind diese Kontraste zwischen Zerstörung und Neubeginn, die Gebhards Schilderungen so eindrücklich machen. Sie zeigen die Fragilität des Lebens und die Hoffnung, die selbst in den dunkelsten Momenten nicht vollständig verschwand.
Erinnerungen eines Zeitzeugen: Späte Erkenntnisse und ein klares Bekenntnis
Im Rückblick spricht Axel Gebhard auch über das politische Klima jener Jahre. Viele Deutsche wussten über Konzentrationslager – aber nicht über deren wahres Ausmaß. Auch in seiner Familie hielt man die Lager für Straf- oder Arbeitsstätten. Doch erst nach Kriegsende wurde das volle Bild der nationalsozialistischen Verbrechen sichtbar – ein Schock, der zur bewussten Abkehr vom Nationalsozialismus führte.
Heute lebt Gebhard in Mainz. Er engagiert sich für die Erinnerung an die Ereignisse von 1945, berichtet in Interviews und publizierten Zeitzeugenbänden wie „Erzähl mal: Zweiter Weltkrieg“ über seine Erfahrungen. Sein Ziel: Junge Menschen zum Nachdenken anregen, das Wissen um Geschichte wachhalten und die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen.
Ein letztes Zeugnis einer untergehenden Generation
Axel Gebhards Geschichte steht stellvertretend für die Erlebnisse vieler Berlinerinnen und Berliner jener Zeit – doch seine Stimme gehört zu den wenigen, die heute noch davon berichten können. Gerade deshalb ist sie so wertvoll. Sie ergänzt die historische Forschung um eine persönliche Perspektive, die in keiner Akte steht.
Zeitzeugen wie er sind das moralische Gedächtnis einer Gesellschaft. Ihre Berichte machen deutlich, wie schnell demokratische Werte zerstört werden können – und wie mühsam ihr Wiederaufbau ist. Dass Axel Gebhard sich nach all dem Erlebten dennoch für Menschlichkeit und Offenheit ausspricht, ist vielleicht die größte Lehre seines Berichts.
Quellen: Podcast „Tagesanbruch – Die Diskussion“ (Folge vom 3. Mai 2025), t-online.de