West-Berlin war in den 1970er Jahren Vorreiter und Widerstandsort zugleich – von autofreien Sonntagen bis zum erfolgreichen Kampf von Bürgerinitiativen gegen den Bau der Westtangente. Die Verkehrsdebatten von damals sind heute aktueller denn je. Gleichzeitig stehen Metropolräume wie New York und Los Angeles vor ähnlichen Fragen – und liefern zögerliche, aber bemerkenswerte Antworten.

Autofreie Sonntage auf der Berliner Stadtautobahn: Die Geschichte des Autos ist auch die Geschichte gesellschaftlicher Widersprüche. Wo Umweltpolitik und Wirtschaft aufeinanderprallen, wird der Fortschritt zur Gratwanderung. / © Foto: IMAGO
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Artikelreihe: Abschied von der autogerechten Stadt – Realität oder Utopie?
von Wolfgang Leffler
Teil 8 – Die Westtangente und der Widerstand: West-Berlins Kampf gegen das Auto
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Die Ölkrise im Jahr 1973 hatte nicht nur zwischenzeitliche Auswirkungen auf den Lebensstil der Amerikaner, sondern auch auf die Lebensgewohnheiten der europäischen Länder. Die in der OPEC vereinigten arabischen Länder beschlossen am 17. Oktober 1973, ihre Ölfördermengen zu drosseln – als Vergeltung gegen die Verbündeten Israels im Jom-Kippur-Krieg. Innerhalb weniger Wochen vervierfachte sich daraufhin der Ölpreis.
In Westdeutschland musste Bundeskanzler Willy Brandt den Menschen diese schlechten Nachrichten überbringen; auch in Großbritannien und Frankreich blieb es den Regierungschefs nicht erspart, dem Volk diese unliebsamen Nachrichten mitzuteilen.
1973: Die Ölkrise ließ Utopisten plötzlich von einer Welt ohne Autos träumen
Die aufgrund der Ölkrise ausgerufenen Sparzwänge beim Benzinverbrauch hatten zur Folge, dass in den USA nur jede fünfte Tankstelle mit Benzin beliefert wurde, erste Geschwindigkeitsbegrenzungen eingeführt und in den westeuropäischen Ländern, inklusive der Bundesrepublik, autofreie Sonntage angeordnet wurden. Man gewann den Eindruck, dass die Kinder die Straße „zurückerobern“, und einige Utopisten träumten bereits von einer Welt ohne Autos.
Aber diese Einsparungen hielten nicht lange an, und die Kehrtwende des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon ließ ein Dilemma vorausahnen, das die Politiker permanent beschäftigt, wenn es um Wählerstimmen, wirtschaftliche Zwänge und Machterhalt geht.
Richard Nixons Rolle Rückwärts: Ausbau der Alaska-Pipelin
Dazu Richard Nixon: „Wir brauchen jetzt Gesetze, die den Ausbau der Alaska-Pipeline genehmigen.“ Diese Pipeline wurde in Alaska dann auch umgehend realisiert: die Trans-Alaska-Pipeline von der Prudhoe Bay im Norden zum Hafen Valdez im Süden Alaskas – auf einer Länge von 1.287 Kilometern. Die Ureinwohner Alaskas, um deren Territorium es sich dabei handelte, wurden mit Brosamen abgespeist.
Öl ist der Treibstoff der Wirtschaft, und nach ersten provisorischen Lösungen zur Reduzierung des Ölverbrauchs sind die Regierungen in der Verantwortung, Wege zu finden, um den Lebensstandard der Bevölkerung zu sichern. Die entscheidende Frage ist dabei aber: Wie, wenn die ölexportierenden Länder die Importe drosseln?
In den folgenden Jahrzehnten nehmen CO₂-Emissionen des Straßenverkehrs weltweit weiter zu
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten nahmen die CO₂-Emissionen des Straßenverkehrs weltweit weiter zu, obwohl die Maßnahmen der Hersteller die Emissionen angeblich sanken. Trotz der Verringerung des Kraftstoffverbrauchs der Fahrzeuge konnte dies den stetigen Anstieg des Verkehrsaufkommens nicht stoppen.
Die Autos auf den Straßen haben sich mittlerweile vervierfacht, und der Wettbewerb auf dem Automarkt wurde sogar zu einem weltweiten Wirtschaftskrieg – inszeniert in einem der berühmtesten Autorennen: dem 24-Stunden-Rennen von Le Mans in Frankreich, für das heute wieder aufwendige Werbekampagnen für das demnächst bevorstehende Rennen laufen.
Gegen den übermäßigen Autoverkehr: Bürgerinitiativen im Westen Berlins
Und wie reagierten die Gegner der autogerechten Stadt im Westteil der Stadt? Sie reagierten natürlich auf die zunehmende Automotorisierung und entwarfen 1972 ein neuartiges Straßenschild, auf dem ein Auto mit Kuhhörnern zu sehen war – als Synonym für „Sperrung für heilige Kühe“.
Diese „Bürgerinitiative Verkehrspolitik“ initiierte am Kurfürstendamm Fahrraddemonstrationen und erstellte dazu begleitend eine kleine Broschüre: „Der Anfang vom Ende des Autos“, Autor war ein gewisser Jürgen Dahl.
1970er Jahre: Vier autofreie Sonntage wurden vom West-Berliner Senat angeordnet
Die seitens des Berliner Senats angeordneten vier autofreien Sonntage machten bewusst, wie abhängig der Automobilverkehr vom Öl und Ölpreis ist und vermittelten die unmittelbaren Auswirkungen – bei abgasfreiem, leisem und ungefährlichem Verkehr in verkehrsberuhigten Straßen.
Der 1972 veröffentlichte Flächennutzungsplan brachte die Anwohnerinnen und Anwohner des nördlichen Schöneberger Autobahnkreuzes Ende 1973 auf die Barrikaden, denn direkt hinter ihren Wohnhäusern sollte die geplante Autobahn „Westtangente“ verlaufen.
Schöneberg 1972: Proteste der Bevölkerung gegen geplanten Bau der „Westtangente“
Diese Bürgerinitiative – BIW – protestierte nicht nur gegen die zunehmende Automotorisierung, sondern machte sich parallel dazu auch für eine Verkehrswende zugunsten der Fußgänger, Radfahrer und Nutzer des ÖPNV stark. Zusätzlich forderten sie mehr grüne Oasen, speziell in der Innenstadt. Vor dem Hintergrund eines trotz allem zunehmenden Automobilverkehrs wurden weitere Bürgerinitiativen ins Leben gerufen.
Die zahllosen öffentlich geführten Diskussionsveranstaltungen, Pressekonferenzen, Radio- und Fernsehinterviews führten letztendlich zum Erfolg der Aktivisten, sodass das Projekt Autobahn „Westtangente“ – auch mittels gerichtlicher Auseinandersetzungen – nicht umgesetzt werden konnte. Dies hatte auch zur Folge, dass einige damit im Zusammenhang stehende Straßenausbaupläne geändert wurden.
Mehr Fahrrad, mehr ÖPNV: Verkehrswende in Berlin und Lernen vom Ausland
Diese Bürgerinitiativen zeigen, welchen Erfolg man mit solch konzertierten Aktionen erzielen kann und dass man nicht alles hinnehmen muss, wenn es um eine nachhaltige Stadt-, Verkehrs- und Grünentwicklung einer Metropole wie Berlin geht.
Die Statistiken belegen, dass die Stadtbewohner Berlins zunehmend mit dem Fahrrad unterwegs sind und immer mehr Fahrgäste den ÖPNV nutzen. Die Diskussionen um die Alternativen zum Automobil stehen gegenwärtig im Brennpunkt der breit geführten gesellschaftlichen Debatte.
Deutet sich da ein Umbruch der automobilen Kultur an oder bewegen wir uns bereits hin zum Abschied von der Automobilität der Hochmoderne in den europäischen Hauptstädten und den Metropolen Nordamerikas?
„Green Light for Midtown“: Beginn einer Verkehrswende in den USA?
Betrachtet man die Bemühungen Berlins bei der Umsetzung einer Verkehrswende hin zu mehr Nachhaltigkeit, Ökologie und Entschleunigung, kommt die Hauptstadt nicht so gut weg – etwa im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten wie Paris, London, Kopenhagen und Stockholm oder zu nordamerikanischen Metropolen wie New York und Los Angeles.
Beim Blick über den Teich fällt auf, dass in New York mit dem Rahmenplan „Green Light for Midtown“ ein neues Bekenntnis in der Verkehrsplanung zu erkennen ist, in dem man den öffentlichen Raum für alle Nutzer gleichberechtigt in den Fokus rückt. Allerdings scheinen diese Projekte einer gewissen Kurzlebigkeit zu unterliegen, bedingt durch baulich minimale operative Eingriffe, die bei Bedarf auch schnell wieder revidiert werden können.
In New York City debattiert man derzeit über die 2025 eingeführte City-Maut
Für die New Yorker Stadtautobahn gilt das freilich nicht. Aufgrund der neuesten politischen Wendungen ist jedoch zu vermuten, dass dem Automobil wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen könnte, sodass man hier die Entwicklung abwarten muss, bevor man tatsächlich von einer realen Trendwende sprechen kann.
Trotzdem muss man anerkennen, dass die beschlossenen Maßnahmen in New York City – eine Stadt, die mit den europäischen Metropolen noch am ehesten vergleichbar ist – ein Umdenken in Gang gesetzt haben könnten. Aktuell streitet man in New York über die Anfang 2025 eingeführte City-Maut, die man wieder abschaffen will – was mittlerweile jedoch zu einem stadtinternen Rechtsstreit zwischen den Interessengruppen ausgeartet ist.
Siedlungsraum Los Angeles: Ein Umdenken in der Verkehrspolitik ist deutlich zu erkennen
Anders sieht das dagegen in Los Angeles aus, der ersten Partnerstadt West-Berlins und ab 1967 das Vorbild für den autogerechten Umbau der Stadt. In Los Angeles, einer stark zersiedelten Stadt, in der Vergangenheit bekannt durch den berüchtigten LA-Smog, ist eine Umkehr in der Verkehrsplanung tatsächlich zu erkennen.
Mit 500 Kilometern Straßenbahnstrecken und 2.000 Kilometern neu angelegten Radwegen erkennt man eine zunehmende Abkehr vom Automobil – wobei man nicht verschweigen darf, dass in Los Angeles das Auto nach wie vor das am häufigsten genutzte Verkehrsmittel ist. Dennoch sollen die 2028 stattfindenden Olympischen Sommerspiele „autofrei“ werden. Auf das entsprechende Konzept der Stadtoberen darf man in jedem Fall gespannt sein.
In den USA ist ein verändertes Mobilitätsverhalten zu erkennen – wenn auch äußerst moderat
Denn immerhin hat rückblickend in die Vergangenheit keine andere Stadt in den USA ihr öffentliches Nahverkehrssystem in den 1930er-Jahren so brutal zurückgebaut wie Los Angeles. Derzeit ist ein Paradigmenwechsel zu erkennen, der mit erstaunlichem Tempo vorangetrieben wird.
Insgesamt gesehen ist in den USA ein verändertes Mobilitätsverhalten zu beobachten – wenn auch noch äußerst moderat. Die bisher in den Staaten realisierten Vorhaben beweisen jedoch, dass ein Umdenken zur Veränderung eingesetzt hat.
Dilemma von Politik und Autokonzernen: Der VW-Dieselskandal erschütterte die Automobilbranche weltweit
Das durch die Kehrtwende in der Energiepolitik bereits angedeutete Dilemma beschäftigt sowohl die Politik als auch die Fahrzeughersteller, die sich einerseits gezwungen sehen, den Ansprüchen einer nachhaltigen Umweltpolitik – sprich: Reduzierung der CO₂-Emissionen – gerecht zu werden, und andererseits die Verkaufszahlen der Fahrzeuge aus wirtschaftlichem Interesse trotzdem hochzuhalten.
Dieses Spannungsfeld musste letztendlich zu einem der größten Skandale des Zeitalters führen – und ausgerechnet in den USA, die in den letzten Jahrzehnten vermehrte Anstrengungen zur Verbesserung des Klimas unternommen haben.
„Clean Diesel“: Umweltfreundliche Autos als starkes Verkaufsargument
Und dann initiierte der weltgrößte Autobauer aus Deutschland in den USA eine Werbekampagne mit dem Slogan „A closer look at TDI – Clean Diesel“ oder näher unter der Lupe betrachtet: „Wissen Sie, was am 2012er VW Passat TDI CD wirklich toll ist? Er bietet nicht nur hervorragenden Kraftstoffverbrauch – Sie werden auch die Leistung lieben!“
Umweltfreundliche Autos sind ein gutes Verkaufsargument. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert, mit neuen Motoren unter dem Namen „Green Diesel“, wollte VW das Image der Dieseltechnologie grün anstreichen, um die Amerikaner davon zu überzeugen: „Nach Dallas, ohne zu tanken – und schnell bin ich auch!“
VW-Skandal: Vermeintliche Ingenieurskunst erwies sich als Taschenspielertrick
Die vermeintliche Ingenieurskunst erwies sich als Taschenspielertrick. Im Jahr 2014 entdeckte ein kleines Labor der University of Virginia bei Messungen von Automarken wie VW, dass die von den Herstellern angegebenen Werte bei Straßentests abweichen. Sie überschritten die Grenzwerte für Stickstoffemissionen sogar um das Vierzigfache.
Dazu wurde von VW-Ingenieuren eigens eine raffinierte technische Vorrichtung entwickelt, mittels derer die Laborkontrollen getäuscht werden sollten. Der VW-Konzern sah sich daraufhin gezwungen, in den USA mehr als 500.000 Autos zurückzurufen. Insgesamt bedeutete der Dieselskandal für VW mittlerweile einen Verlust von circa 30 Milliarden US-Dollar an Strafgeldern.
Betrügerische Vorrichtungen, um unüberwindliche technische Herausforderungen zu meistern
Aber das war nur die Spitze des Eisbergs: Neben den 500.000 Autos in den Vereinigten Staaten kamen weltweit noch weitere elf Millionen Fahrzeuge hinzu, die mit demselben System ausgerüstet worden waren.
Interne Untersuchungen haben ergeben, dass einige Ingenieure des Unternehmens diese Betrugsmasche bewusst entwickelt haben, weil sie vor der unüberwindlichen technischen Herausforderung standen, sowohl wirtschaftliche als auch ökologische Anforderungen zu erfüllen. Womit wir wieder bei dem anfangs erwähnten Dilemma wären.
Drei Jahre nach Bekanntwerden des Skandals verzeichnete VW die besten Verkaufszahlen der Unternehmensgeschichte
Übrigens verzeichnete der VW-Konzern im Jahr 2018 die besten Verkaufszahlen seiner Geschichte – drei Jahre nach Bekanntwerden des Skandals. Anstatt sich um eine technische Lösung zur Verschleierung des tatsächlichen Stickstoffausstoßes der Dieselfahrzeuge zu bemühen, hätten die VW-Manager dafür sorgen müssen, die unausweichlichen Anforderungen für neue Technologien für E-Fahrzeuge schnellstens technisch umzusetzen.
Vielleicht ist dieser Dieselskandal auch ein Ausdruck der Schizophrenie der ganzen Gesellschaft – dem Wunsch nach ständigem Wachstum mit der Hoffnung, gleichzeitig die Auswirkungen auf die Natur zu verringern. Doch diese Rechnung geht in der Realität leider nicht auf. Übrigens ist 50 Jahre nach dem Bericht des Club of Rome die Durchschnittstemperatur der Erde um 1,5 Grad Celsius gestiegen.
Dieselskandal, City-Maut und autofreie Sonntage: Wie geht eine Gesellschaft mit dem offensichtlichen Dilemma um?
Die Geschichte der letzten 50 Jahre zeigt: Wirtschaftliches Wachstum und wirksamer Umweltschutz stehen in einem grundsätzlichen Widerspruch. Noch immer dominiert die Hoffnung, beides vereinen zu können – doch die Realität erzählt eine andere Geschichte.
Der Dieselskandal, die City-Maut und autofreie Sonntage stehen exemplarisch für ein Dilemma, das nicht gelöst, sondern nur verschoben wird. In der nächsten und letzten Folge geht es um die Frage: Wie geht eine Gesellschaft mit diesem Widerspruch um?
Fortsetzung folgt…
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Quellen: OPEC, Bundesplatz e. V., TU Berlin, Straßen- und Brückenbau in Berlin 1945 bis 2000, Forschungsgesellschaft für Strassen und Verkehrswesen, Köln 2008, Heft 22, Immer modern, Wasmuth Verlag, AIV Berlin u. Brandenburg, Band 2, Wikipedia, Deutsches Architektur Forum, Bauwelt, BauNetz, VW, Club of Rome