Die Transformation europäischer Städte begann mit den eleganten Boulevards und führte bis zu den ersten Autobahnen. Diese Straßen spiegelten die Bedürfnisse einer neuen Epoche wider und veränderten die Stadtlandschaften grundlegend. Das Automobil prägte den Übergang von Pferdekutschen zu motorisiertem Verkehr und stellte die Stadtplanung vor neue Herausforderungen.

Das Automobil als Symbol der Moderne veränderte die Städte des 20. Jahrhunderts radikal. Von den ersten Automobilen bis hin zu Autobahnen beeinflusste die motorisierte Mobilität die Gestaltung urbaner Räume – auch im rasant wachsenden Berlin. / © Foto: IMAGO / United Archives International
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Artikelreihe: Abschied von der autogerechten Stadt – Realität oder Utopie?
von Wolfgang Leffler
Teil 1 – Wie das Automobil die Städte für immer veränderte
Zum Prolog der Artikelreihe gelangt Ihr hier.
Die Geschichte der großen Straßenerweiterungen in den europäischen Metropolen des 19. Jahrhunderts, wie Paris, Berlin, Wien, London oder Barcelona, reicht in den Zeitraum um das Jahr 1860 zurück, in dem ein neuer Typus von Straßen entstand – die Groß- oder Hauptstraße.
Dieser neue Straßentypus sprengte alle bisher gekannten Dimensionen, denn die neuen Straßen waren in ihren Ausmaßen wesentlich großzügiger und breiter angelegt – kurzum, wir sprechen hier von den eleganten Boulevards.
So waren es etwa in Paris der Boulevard Richard Lenoir, in Wien die Ringstraße, in Barcelona die von Cerdà geplante Stadterweiterung. Diese Boulevards schufen einen städtischen Raum für das Bürgertum, das dort in vorderster Front seine großen Bürgerhäuser bauen ließ und damit seinen Geltungsdrang zum Ausdruck brachte.
Europa im 19. Jahrhundert: Boulevards als Ausdruck von Lebensqualität und Bürgertum
Zudem stellten diese Boulevards eine neue Lebensqualität dar hinsichtlich des Zusammenspiels von normalem Lebensrhythmus, gepaart mit den Annehmlichkeiten der Metropolen, wie Theatern und Opern, sowie der Nähe zu den Bahnhöfen.
In Berlin wurde die erste große Stadterweiterung im Jahr 1862 durch den preußischen Staat selbst initiiert, indem man den Ingenieur James Hobrecht damit beauftragte. Umgesetzt wurde es dann durch private Bau- und Bodenspekulation.
Berlin in den 1860er Jahren: Die Rückkehr großer Straßen in den Fokus der Stadtplanung
Diese großen Straßen, die alle zwischen 1860 und 1873 konzipiert und realisiert worden waren, stehen derzeit wieder im Mittelpunkt des Interesses bei der Umgestaltung der heutigen Städte und ihren massiven Verkehrsproblemen.
Denn diese Straßen waren nicht nur vom Erscheinungsbild her ein Aushängeschild für die Städte, sondern sie waren auch Orte des öffentlichen Raums, die allen Verkehrsteilnehmern zur Verfügung standen, aber trotzdem eine dichte Urbanität zuließen.
Jahrhundertwende: Der Einfluss des Automobils auf die Stadtentwicklung
Wie einschneidend das Automobil die Entwicklung der großen Metropolen bestimmt und zu automobilorientierten Stadtumgestaltungen geführt hat, ist all denen bewusst, die sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen, was sich auch nicht zuletzt an Berlin festmachen lässt. Trotzdem ist eine Reminiszenz zu dieser epochalen Entwicklung des Automobils als dominierendem Faktor angebracht.
Im Jahr 1885 meldet der Deutsche Carl Benz sein erstes Automobil zum Patent an – das erste Automobil der Geschichte. Zur Weltausstellung 1889, die zum hundertjährigen Jubiläum der Französischen Revolution und zur Präsentation des Eiffelturms in Paris stattfand, wurde Benz’ Automobil präsentiert und war eine Sensation.
Ab 1900: Die internationale Entwicklung des Automobils
Aber auch andere Nationen verfügten über tüchtige Technikfreaks, die ebenso ihren Anteil an der automobilen Entwicklung haben sollten. Dazu gehörten Techniker und Geschäftsleute in den USA und Belgien sowie Peugeot und Renault aus Frankreich und Agnelli in Italien.
Paris war 1900, also nur ein Jahr nach der Präsentation des Benz’schen Automobils, erneut Gastgeber einer Weltausstellung. Mit 50 Millionen Besuchern war sie die größte ihrer Art. Doch bereits dort präsentierten 80 Automobilhersteller ihre Modelle.
Der Straßenverkehr im frühen 20. Jahrhundert
Bis dahin gehörten die Straßen noch allen Teilnehmern des Straßenverkehrs – von den Fußgängern über die Fahrradfahrer, zu den Pferdedroschken bis hin zu den Pferdestraßenbahnen. Im Zeitraum 1905/1906 glichen sich die Bilder in den großen Straßen der Metropolen, denn die Straßen gehörten allen; es gab keine Verkehrsregeln. Vorsicht, Höflichkeit und gegenseitige Rücksichtnahme waren gefordert.
In San Francisco fuhr 1902 das erste Automobil auf der Market Street, und im Jahr 1905 waren bereits 4.000 Automobile für den Betrieb im Straßenverkehr zugelassen. Dies war ein Vorgeschmack auf die Beschleunigung des Fortschritts und die weitergehenden Veränderungen.
Die Rohstoffbeschaffung für die Automobilproduktion
Mit der fortschreitenden Entwicklung und Zunahme der Automobilproduktion begann auch die massenhafte Beschaffung von Rohstoffen, zum Beispiel für Reifen, die aus Kautschuk hergestellt wurden. Die europäischen Automobilhersteller begannen in ihren Kolonien mit der Rodung des Dschungels, um Kautschukplantagen anzulegen.
Der amerikanische Automobilhersteller Ford kaufte in Südamerika mehrere Hektar Dschungel, um den ständig wachsenden Bedarf an Kautschuk in seinen Produktionsstätten autark abzusichern. Im Jahr 1910 hatte sich das Automobil als ultimatives Accessoire in der Vorstellungswelt der Menschheit etabliert, und wer es sich leisten konnte, gönnte sich diesen Luxus, der fortan als Ausdruck der Moderne galt.
Henry Ford und die Revolution der Automobilproduktion
Der Amerikaner Henry Ford war 1907 der größte Autobauer der Welt und ließ in Detroit Wohnhäuser und Siedlungen entlang der Straßenbahnlinien entstehen. 200.000 Menschen lebten 1914 in Detroit, und 1950 waren es zwei Millionen, die alle in der „Motor City“ oder „Motown“ Automobile am Fließband herstellten.
Dieser Gigantismus erreichte – wenn auch etwas später – Europa. Der Einfluss der Industriellen auf die Politik nahm stark zu, denn man hatte begriffen, dass mit dem Automobil ein riesiger Markt vor der Tür lag, der gigantische Geschäfte versprach.
Der Umbau der Städte für den zunehmenden Autoverkehr
Die Autobauer hatten ihre Werkstätten verlassen und waren keine Handwerker mehr. Sie hatten sich zu neuen Industriekapitänen aufgeschwungen, die wesentlichen Einfluss und Druck auf die Gestaltung der Städte sowie der neuen Straßen ausübten.
Die bisherigen staubigen Feldwege wurden geteert, und die vorhandenen Landstraßen wurden in breitere Fahrspuren angelegt, sodass sie wie ausgerollte Bänder die Landschaft durchpflügten.
Die Zunahme des Autoverkehrs in den Städten führte zu einem Umbau der Städte: zur Verbreiterung der Hauptstraßen bis hin zu Autobahnen, die durch die Städte führten, um den stetig ansteigenden Verkehrsfluss zu bewältigen.
Die verspätete Entwicklung Berlins zur Metropole
Und was passierte eigentlich in Berlin? Mitte des 19. Jahrhunderts bewegte sich der Verkehr in Berlin noch recht beschaulich in den Straßen. Doch der zunehmende Berufsverkehr durch Industrieansiedlungen sowie die Zunahme des gewerblichen Geschäfts- und privaten Personenverkehrs sollten den Charakter des Straßenverkehrs bald stark verändern.
Der Verkehr, der bis dahin hauptsächlich mit Pferdestraßenbahnen bewältigt wurde, bekam durch die Zulassung der ersten Pferdeomnibusse die erste ernsthafte Konkurrenz, die jedoch zur Bewältigung des Verkehrsaufkommens notwendig geworden war.
Berlins Straßenbild: Das Verkehrsaufkommen wuchs in ungezügeltem Ausmaß
Im Zuge der Industrialisierung und des rasanten Anstiegs von Handel und Gewerbe nahm auch das Verkehrsaufkommen derart zu, dass weitere Alternativen zur Bewältigung des sich anbahnenden Verkehrschaos erforderlich wurden. Die Einwohnerzahl Berlins hatte sich in den Jahren 1850 bis 1890 fast vervierfacht und betrug um das Jahr 1890 circa 1,6 Millionen. Bis 1905 wuchs sie nochmals auf 2 Millionen Einwohner an.
Analog zum Bevölkerungswachstum hatte sich auch das Verkehrsaufkommen vervierfacht. Zu einer weiteren, wesentlich effektiveren Alternative zur Bewältigung des Verkehrschaos avancierte die 1896 von der Firma Siemens gebaute und in der Friedrichstraße eingesetzte vollelektrische Straßenbahn.
1902: Erste Automobile mit Verbrennungsmotor in Berlin
Die Pferdeomnibusse wurden bald von den neuartigen, mit Verbrennungsmotoren angetriebenen Omnibussen verdrängt, die im Verlauf des zunehmenden Verkehrsaufkommens – unterstützt durch den Berliner Senat – als Doppeldecker das Straßenbild prägen sollten. Ebenso wie in San Francisco 1902 erlebte auch Berlin im gleichen Jahr die Premiere eines privat betriebenen und polizeilich genehmigten Automobils mit Verbrennungsmotor.
Kaiser Wilhelm II., als Oberhaupt des preußischen Staates, stand anfangs diesen Fahrzeugen sehr skeptisch gegenüber. Doch es dauerte nicht lange, und er legte sich selbst ein solches „neuartiges Fahrzeug“ zu und wurde letztendlich ein glühender Anhänger des Motorsports.
Großstädtischer Massenverkehr wischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg
In dieser Zeitspanne entwickelte sich in Berlin der großstädtische Massenverkehr, der nicht nur durch den bereits gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr mit S- und U-Bahn, Omnibussen und Straßenbahnen bewältigt wurde. Auch der Automobilverkehr begann als Verkehrsträger immer mehr an Bedeutung zu gewinnen.
Dabei spielte die Gründung von Groß-Berlin 1920 eine entscheidende Rolle. In der nachfolgenden Ära der Weimarer Republik erlangte der Automobilverkehr die Priorität, die den Ausbau des Straßennetzes sowohl in der Stadt als auch im Umland zur Folge hatte.
Weimarer Republik: Bau der AVUS als erste Autobahn im Berliner Südwesten
Im Jahr 1921 konnte die AVUS (Automobil-, Verkehrs- und Übungsstraße) als erste Autobahn der Welt eingeweiht werden. Die Vorbereitungen dazu liefen bereits seit 1908, mussten jedoch durch den Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 unterbrochen werden.
Die im Jahr 1913 angelaufenen Arbeiten für diese ausschließlich für Automobile zugelassene Straße – von Charlottenburg nach Nikolassee – wurden erst nach Kriegsende wieder aufgenommen.
Berlines Stadtplaner und die Herausforderungen der Motorisierung
Die Politiker und Stadtplaner jener Zeit hatten frühzeitig erkannt, dass das vorhandene Berliner Straßennetz der rasanten Zunahme des Massenverkehrs nicht mehr gewachsen sein würde. Zudem war den Verantwortlichen im Berliner Senat die rapide Zunahme des Automobilverkehrs in den Vereinigten Staaten nicht entgangen.
Die Metropole Berlin benötigte innerhalb der Stadt Ringstraßen und für den aus der Stadt herausführenden Verkehr mehrere Ausfallstraßen. Es lag somit auf der Hand, dass die Architekten und Stadtplaner vor einer riesigen Aufgabe standen.
Berlin in den 1920er Jahren: Großflächige Stadtsanierungen im Namen des Fortschritts
Die stetig zunehmende Motorisierung verlangte also nicht nur besonders breite Autostraßen, sondern auch dazu passend gestaltete Plätze. Diese sollten die Voraussetzung dafür schaffen, dass der Großstadtverkehr schnell, sicher und unproblematisch durchgeleitet werden konnte.
Den Stadtplanern war natürlich klar, dass mit diesem Konzept auch schmerzhafte Eingriffe in die bestehende Stadtlandschaft einhergehen würden. Doch wenn man eine derart umfangreiche Stadtsanierung in Angriff nehmen wollte, kam man um das Niederreißen und Zerstören bestehender Strukturen nicht herum.
Dieser tiefgreifenden Umgestaltung widmen wir uns im zweiten Teil unserer Reihe. Zum Prolog der Artikelreihe gelangt Ihr hier.

Mit der Erfindung des Automobils begann eine Ära rasanter Veränderungen in den Metropolen Europas. Das Wachstum des Verkehrs und die Anforderungen des Autos führten zu weitreichenden Umbauten in Städten wie Berlin und Paris. / © Foto: IMAGO / imagebroker
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