1921 reichte Ludwig Mies van der Rohe einen visionären Entwurf für ein Hochhaus an der Berliner Friedrichstraße ein – ein transparenter Kristallturm aus Glas und Stahl. Der Entwurf wurde nie realisiert, prägte jedoch die internationale Architekturgeschichte und blieb als symbolisches „Luftschloss“ im kollektiven Gedächtnis der Stadt.

Das rund 4.200 Quadratmeter große Areal an der Friedrichstraße, auf dem Mies’ Entwurf geplant war, wurde später in anderer Form bebaut. Heute steht dort ein Bürokomplex, der sich stilistisch vage an Mies orientiert und heute als „Spreedreieck“ bekannt ist (rechts). / © Foto: Wikimedia Commons / Neuköllner

© Foto Titelbild: Wikimedia Commons (Portrait Ludwig Mies van der Rohe: Hugo Erfurth) 

 

Anfang der 1920er-Jahre nahm Ludwig Mies van der Rohe an einem Ideenwettbewerb teil, der den Bau eines Hochhauses am Bahnhof Friedrichstraße zum Ziel hatte. Sein Beitrag, bekannt unter dem Namen „Wabe“, war ein 20-stöckiges Bürohochhaus mit vollständig verglaster Fassade und einem stählernen Tragwerk. Die Konstruktion war radikal, funktional und ihrer Zeit weit voraus.

Der Entwurf zeichnete sich durch eine dreieckige Grundform aus, die optimal auf das spitz zulaufende Baugrundstück reagierte. Die Fassade bestand aus Glas, das sich wie eine kristalline Hülle um das Skelett des Gebäudes legte – ein frühes Beispiel für das, was später als „Haut-und-Knochen“-Architektur bekannt wurde. Erstmals wurde mit flexiblen Grundrissen und vollständiger Transparenz experimentiert – Aspekte, die in den folgenden Jahrzehnten das moderne Hochhaus prägen sollten.

Mies van der Rohes Hochhaus für die Friedrichstraße: Ein Entwurf ohne Chance auf Realisierung

Der Wettbewerb war prominent besetzt, viele bedeutende Vertreter der Avantgarde beteiligten sich. Doch Mies’ Beitrag fiel durch. Der Entwurf verstieß bewusst gegen wesentliche Anforderungen der Ausschreibung, was ihn als provokative, fast künstlerische Stellungnahme erscheinen ließ. Ludwig Mies van der Rohe selbst soll später vermutet haben, sein Beitrag sei als Scherz aufgefasst worden.

Hinzu kamen technische Bedenken: Die radikale Transparenz und die filigrane Struktur wirkten visionär, aber auch unrealistisch für die damalige Baupraxis. In einer Stadt, die sich noch an traditionellen Blockrandbebauungen orientierte, fehlte das Verständnis für einen solch modernen Ansatz. Der Entwurf wurde ausgeschlossen und somit bestand eine Chance auf Realisierung zu keinem einzigen Zeitpunkt.

Ludwig Mies van der Rohe entwarf einen Meilenstein der modernen Architektur

Trotz der Ablehnung blieb der Entwurf nicht folgenlos. Denn Ludwig Mies van der Rohe präsentierte ihn auf verschiedenen Ausstellungen und etablierte damit seine Position als führender Vertreter der Avantgarde. Der Entwurf wurde später zum Sinnbild der architektonischen Moderne und als prototypisches Glashochhaus gefeiert. Seine gestalterische Klarheit und konzeptionelle Radikalität beeinflussten nicht nur Mies’ spätere Arbeiten, sondern auch nachfolgende Generationen.

Auch international wurde die Bedeutung des Entwurfs erkannt: So gilt das „Wabe“-Hochhaus in der Rückschau als einer der wichtigsten Beiträge zur Frühphase der Hochhausentwicklung im 20. Jahrhundert. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass in dieser Studie das moderne Glashochhaus vorgezeichnet wurde.

Berlin-Mitte: Was steht heute am ehemaligen Bauplatz an der Friedrichstraße?

Das rund 4.200 Quadratmeter große Areal an der Friedrichstraße, auf dem Mies’ Entwurf geplant war, wurde später in anderer Form bebaut. Heute steht dort ein Bürokomplex, der sich stilistisch vage an Mies orientiert und heute als „Spreedreieck“ bekannt ist. Der Architekt war Mark Braun. Er griff stilistische Aspekte von Mies’ Entwurf auf – vor allem die Betonung von Glasflächen und der horizontalen Linien – interpretierte sie jedoch sehr viel massiver.

Kritikerinnen und Kritiker beschreiben den Neubau als plump und werfen ihm Ignoranz gegenüber dem historischen Kontext vor. Sie sprechen von einer „schwarzen Qualle“ – ein Begriff aus einem Tagesspiegel-Kommentar zur aktuellen Bebauung –, ein Gebäude, das die visionäre Leichtigkeit des Originals, der Kristall-Wabe von Mies, nicht einlösen kann.

van der Rohes „Kristall-Wabe“: Ein Luftschloss von weltweiter Bedeutung

Somit bleibt der visionäre Entwurf im Berliner Stadtbild unsichtbar, sein Einfluss hingegen ist subtil, aber spürbar. Er lebt in der Debatte über Bauästhetik, in der Geschichte des modernen Bauens – und nicht zuletzt als Teil einer langen Reihe Berliner Architekturprojekte, die nie über das Papier hinausgekommen sind.

Der Mies-Entwurf für das Hochhaus an der Friedrichstraße ist ein klassisches Berliner Luftschloss – nie gebaut, aber dennoch stilbildend. Seine radikale Transparenz, die innovative Formensprache und der konzeptionelle Mut machten ihn zum Mythos der Moderne. Die „Wabe“ bleibt ein Sinnbild für das, was Architektur sein kann – ein geistiges Bauwerk, das bis heute nachwirkt.

Ludwig Mies van der Rohe – einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts

Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969) war einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. In Aachen geboren, wirkte er vor allem in Berlin, wo er ab den 1910er-Jahren als Architekt arbeitete und ab 1930 das Bauhaus leitete. Seine bekanntesten Werke in Berlin sind das Haus Lemke (1932) und später, nach seiner Emigration in die USA, die Neue Nationalgalerie (1968), die er als „Tempel der Kunst“ konzipierte.

Mies prägte den Leitsatz „Weniger ist mehr“ und wurde zum Meister der minimalistischen Formensprache. Sein architektonisches Schaffen stand für Rationalität, Strukturklarheit und den Einsatz moderner Materialien wie Stahl und Glas. Nach der Schließung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten emigrierte er 1938 in die USA, wo er die Chicagoer Skyline mitprägte. In Berlin hinterließ er geistige Spuren – und mit der Neuen Nationalgalerie ein architektonisches Meisterwerk.

Der Entwurf zeichnete sich durch eine dreieckige Grundform aus, die optimal auf das spitz zulaufende Baugrundstück reagierte. Die Fassade bestand aus Glas, das sich wie eine kristalline Hülle um das Skelett des Gebäudes legte – ein frühes Beispiel für das, was später als „Haut-und-Knochen“-Architektur bekannt wurde. / © Foto: Wikimedia Commons

Quellen: Bauhaus Kooperation, De Gruyter Brill, Der Tagesspiegel, Secret City Travel, Re-thinking the Future, Bauhaus Archiv