Die Auseinandersetzung um die ideale Ausnutzung des öffentlichen Verkehrsraums gehört im Berlin der 2020er Jahre zu den bestimmenden, gesellschaftlichen Themen. Gleichzeitig ist es eine der am schwierigsten zu lösenden, städtebaulichen Aufgaben. Wir haben drei Beispiele aus ganz unterschiedlichen Berliner Kiezen beleuchtet.
© Grafiken: Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz
Es ist fast unmöglich, alle anstehenden oder geplanten Infrastrukturprojekte aufzuzählen, bei denen in Berlin intensiv und oft unversöhnlich um die Nutzung des öffentlichen Verkehrsraums gerungen und gestritten wird.
Eine Auswahl: Petersburger Straße in Friedrichshain, Tempelhofer Damm in Tempelhof, Friedrichstraße in Mitte, Kantstraße in Charlottenburg, Karl-Marx-Allee in Mitte, Hermannstraße in Neukölln, Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg oder Unter den Linden in Mitte.
Die Neuordnung des Straßenraums findet in allen Berliner Bezirken statt
All dies sind Projektvorhaben, bei denen die Berliner Landesregierung in Zusammenarbeit mit den Bezirken derzeit die Neuordnung des Straßenraums forciert, häufig zugunsten von Fahrradfahrern und Fußgängern. Das Problem ist nur: Es gibt wohl nicht ein einziges Projekt, bei dem nicht intensiv um eine sinnvolle Nutzung des Straßenraums gestritten wird. Häufig stehen sich die Konfliktparteien unversöhnlich gegenüber, ein einfaches „richtig“ oder „falsch“ scheint es nicht zu geben.
Wir beleuchten daher drei aktuelle Beispiele (die in der oben stehenden Aufzählung nicht enthalten sind), welche die Komplexität der Verkehrsplanung verdeutlicht. Dabei schauen wir in drei sehr unterschiedliche Kieze in Mitte, Kreuzberg und Schöneberg.
Graefekiez in Kreuzberg
Im Graefekiez im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, in dem rund 20.000 Menschen leben, könnten demnächst alle privaten Parkplätze im öffentlichen Straßenraum wegfallen. Darauf zielt jedenfalls ein Antrag von SPD und Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung ab, in der die Parteien die Mehrheit der Sitze innehaben.
Vorgeschlagen wird ein wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt, das zunächst sechs bis zwölf Monate laufen soll. Parkmöglichkeiten sollen dann nur noch für Menschen mit Behinderungen sowie für Sharing- Fahrzeuge wie Autos, Elektroroller, Fahr- oder Lastenräder bestehen. Für Anwohner soll es möglich sein, ihre privaten Fahrzeuge für einen Sonderpreis von 30 Euro im Monat im Parkhaus Hermannplatz zu parken.
Parkmöglichkeiten sollen weitgehend wegfallen
Die Straßen im Kiez würden im Falle einer Umsetzung der Idee als Spielstraßen ausgewiesen, die aber grundsätzlich weiter befahren werden dürften. Zu- und Anlieferungen wären also auch weiterhin möglich. Die Reaktionen der Anwohnerinnen und Anwohner darauf sind sehr unterschiedlich.
Viele Bewohnerinnen und Bewohner des Kiezes beschweren sich über zu viele Autos im Straßenraum und wünschen sich mehr Flächen für Begrünung, Urban Gardening oder gemeinsame Nachbarschaftsprojekte. Zudem sollen weniger gefährliche Verkehrssituationen entstehen, vor allem im Hinblick auf Kinder im Straßenverkehr. Auch eine Reduzierung der Lärmbelästigung soll erreicht werden.
Es gibt aber auch eine große Zahl von Menschen, die die Maßnahme überhaupt nicht verstehen und sich von der Politik übergangen fühlen. Dazu gehören unter anderem Berufstätige, die im Quartier arbeiten und keine Parkplätze mehr vorfinden. Auch Einzelhändler melden sich kritisch zu Wort, da sie betonen, ihre Einnahmen nicht nur mit Anwohnern, sondern auch mit Menschen zu generieren, die per Auto im Kiez unterwegs sind. Diese Einnahmen würden zukünftig wegfallen.
Handjerystraße in Friedenau
Im Schöneberger Stadtteil Friedenau soll die Handjerystraße in eine Fahrradstraße umgewandelt werden. Dies würde bedeuten, dass Radfahrerinnen und Radfahrer zwei Spuren je Richtung erhalten, mit einer Breite von 3,50 Meter je Richtung.
Auf einer Seite der Straße soll der Parkraum dafür wegfallen, um die Neuaufteilung der Straßenspuren umsetzen zu können. Anwohner kritisieren, dass dadurch der Autoverkehr in den Nebenstraßen zunehmen werde und vor allem für diejenigen, die abends von der Arbeit nach Hause kommen, keine verfügbaren Parkangebote mehr vorhanden seien.
Kritik der Anwohner: Verlagerung des Verkehrs in Nebenstraßen
Saskia Ellenbeck, Stadträtin für Straßenwesen im Bezirk, verteidigt die Maßnahme allerdings damit, dass die festgelegten Qualitätsstandards für die Umsetzung einer Fahrradstraße in der Handjerystraße in Friedenau nur erreicht werden können, wenn auf einer Seite der Straße die Parkplätze wegfallen.
Anwohnerinnen und Anwohner kritisieren zudem eine mangelnde Bürgerbeteiligung im Projekt. Diese war im Verkehrsausschuss jedoch abgelehnt worden. Ellenbeck betont jedoch, dass das Projekt in der Bezirksverordnetenversammlung des Bezirks intensiv und ausdauernd diskutiert worden sei.
Die oppositionelle CDU betont, dass nach einer eigenen Erfassung rund 70 Prozent der Anwohnerinnen und Anwohner gegen das Projekt seien, die Grüne Stadträtin aber hält dagegen: Sie unterstreicht die Gültigkeit des Radverkehrsplans des Berliner Senats, nach dessen Richtlinien die Handjerystraße eine sogenannte „überortliche Verbindung“ darstelle. Daher müsse an dieser Stelle eine Entscheidung getroffen werden, die für den Radverkehr ausfalle.
Torstraße in Mitte
Auch der für 2024 anvisierte Beginn der Umbauarbeiten auf der Torstraße im Bezirk Mitte spaltet Anrainer und Anwohner. Statt vier soll es zukünftig nur noch zwei Spuren für den Kfz-Verkehr geben, dafür aber zwei neue Spuren für Radfahrende – bislang gibt es auf der Straße nämlich überhaupt keine Radwege. Dafür müssen Parkplätze weichen.
„Ich sehe für Kunden, die von weiter anreisen, nicht mehr die Möglichkeit, schnell mal hier vor Ort parken zu können.“ sagt Marc-André Kampfhaus, Leiter des Küchenstudios Schmidt, welches direkt in der Torstraße liegt. Und das, obwohl er in dem Umbau optisch eigentlich eine Verbesserung sieht. Seine Sorgen teilt er mit mehreren Ladeninhabern und Gewerbetreibenden in der Torstraße.
Gewerbetreibende bewerten den Umbau sehr unterschiedlich
Andere Ladenbesitzer aber freuen sich auf die Veränderung, vor allem Gastronomen, die die heutige Verkehrssituation als extrem laut, chaotisch und aggressiv wahrnehmen. Denn zwischen Autofahrern und Fahrradfahrern kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen, Konflikten – und auch zu schweren Unfällen.
„Für Restaurants, aber auch für uns im Einzelhandel wäre es ein riesiger Vorteil, wenn sich das ein bisschen beruhigt und die Leute hier mehr ins Schlendern kommen.“ Das sagt beispielsweise Dario Schröder vom Möbelladen Noah Living.
Die Torstraße soll – entsprechend dem Berliner Mobilitätsgesetz – zu einer „attraktiven Straße mit einer hohen Aufenthaltsqualität“ umgebaut werden, so formuliert es jedenfalls die Verkehrsverwaltung. Begonnen wird mit dem Abschnitt von der Chausseestraße bis einschließlich Rosenthaler Platz. In einem zweiten Abschnitt soll die Straße dann von dort bis zur Karl-Liebknecht-Straße erneuert werden.
Bleibt die Mobilitätswende in Berlin Ein gordischer Knoten?
Alle drei Beispiele zeigen, dass sich die Argumente der sich gegenüberstehenden Parteien bezirksübergreifend durchaus gleichen – und dass sie beiderseits sehr nachvollziehbar sind. Diese schwierig zu vermittelnden Positionen übereinander zu bringen und die Projekte dennoch zu einem für alle Seiten verträglichen Ergebnis zu führen, ist eine fast unlösbare Aufgabe.
Der Berliner Verkehrspolitik stellt sich diese Aufgabe trotzdem. Wirklich zu beneiden sind die Projektbeteiligten dabei nicht immer, denn eines scheint ziemlich sicher: Gestritten wird über diese Themen auch weiterhin. Manchmal aber entsteht durch Reibung ja auch etwas gutes, auch in Berlin. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Weitere Bilder zum Projekt findet Ihr hier:
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Quellen: RBB, ENTWICKLUNGSSTADT BERLIN, Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz
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