Hans Stimmann prägte das Berliner Stadtbild nach der Wiedervereinigung maßgeblich. Sein Konzept der „kritischen Rekonstruktion“ setzte auf historische Strukturen und klare Bauvorgaben – umstritten, aber bis heute sichtbar. Während ihn die einen als Bewahrer feierten, kritisierten ihn andere als zu restriktiv. Was bleibt von seiner Vision für Berlin?
© Fotos: IMAGO / Rolf Zöllner
Hans Stimmann war einer der einflussreichsten Stadtplaner Berlins nach der Wiedervereinigung. Als Senatsbaudirektor setzte er konsequent auf das Konzept der „kritischen Rekonstruktion“, das darauf abzielte, historische Stadtstrukturen zu bewahren und gleichzeitig eine zukunftsfähige Stadtentwicklung zu ermöglichen.
Doch seine strengen Vorgaben stießen auf ebenso viel Zustimmung wie Kritik: Während ihn die einen als Vordenker einer geordneten und identitätsstiftenden Stadtgestaltung betrachteten, empfanden andere seine Prinzipien als zu restriktiv und wenig innovativ. Fest steht jedoch: Ohne Stimmanns Handschrift wäre das Berliner Stadtbild heute ein völlig anderes.
Hans Stimmann: Von der Maurerlehre zur Stadtplanung
Hans Stimmann wurde 1941 in Lübeck geboren und begann seine berufliche Laufbahn mit einer Maurerlehre, bevor er ein Architekturstudium an der Fachhochschule Lübeck absolvierte. Nach ersten Tätigkeiten als Architekt in Frankfurt entschied er sich für ein weiteres Studium an der Technischen Universität Berlin, das ihn in die Stadt- und Regionalplanung führte.
Diese Zeit in Berlin war nicht nur akademisch prägend, sondern auch politisch. In den 1970er-Jahren schloss sich Stimmann der SPD an, getrieben von der Überzeugung, dass Stadtplanung weit über das Entwerfen einzelner Gebäude hinausgeht. Er erkannte die Bedeutung von Bodeneigentum, sozialer Durchmischung und funktionalen Stadtstrukturen – Themen, die später in seiner Arbeit eine zentrale Rolle spielen sollten.
Ein Stadtplaner mit einer klaren Vision: Stimmanns Konzept der „kritischen Rekonstruktion“
Stimmann betrachtete Architektur und Stadtplanung nie als rein ästhetische Disziplinen, sondern als politisches Werkzeug, um das Zusammenleben der Menschen aktiv zu gestalten. Sein Konzept der „kritischen Rekonstruktion“war nicht nur eine Antwort auf den zerstörten Stadtgrundriss, sondern auch eine sozialpolitische Haltung: Städte sollten wieder lesbar, zugänglich und gemeinschaftsfördernd sein.
Seine tiefe Skepsis gegenüber sogenannten „Künstlerarchitekten“ rührte aus seiner Überzeugung, dass Architektur nicht primär der Selbstverwirklichung einzelner Gestalter dienen dürfe. In seinen Augen waren spektakuläre Einzelbauten oft Ausdruck einer elitären Architekturauffassung, die den Bedürfnissen der Stadtgesellschaft zuwiderlief. Er setzte stattdessen auf einheitliche Straßenräume und klare Bauvorgaben, um eine kohärente Stadtlandschaft zu formen.
Auch seine eigene Biografie spielte dabei eine Rolle: Als gelernter Maurer hatte er eine praktische Sicht auf das Bauen, die ihn von vielen Akademikern unterschied. Sein Pragmatismus spiegelte sich in seinen Stadtplanungen wider – stets mit dem Ziel, eine funktionale, sozial durchmischte Stadt zu schaffen.
Erste politische Ämter und Rückkehr nach Berlin
1986 wurde Stimmann zum Bausenator in Lübeck berufen. In dieser Funktion sammelte er wertvolle Verwaltungserfahrung und entwickelte Konzepte zur Stadterneuerung, die sich an der traditionellen europäischen Stadt orientierten.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 ergaben sich für Berlin neue Herausforderungen: Die jahrzehntelang geteilte Stadt musste zusammenwachsen, brachliegende Flächen wie der Potsdamer Platz oder die Friedrichstraße brauchten eine städtebauliche Vision. 1991 wurde Stimmann von Wolfgang Nagel, dem damaligen Berliner Bausenator, als Senatsbaudirektor berufen – eine Position, die ihn zum einflussreichsten Stadtplaner der Hauptstadt machte.
Das Planwerk Innenstadt: Historische Stadtstruktur als Leitbild
In seiner neuen Rolle setzte Stimmann auf das Prinzip der „kritischen Rekonstruktion“. Anstatt das Stadtbild radikal zu modernisieren, orientierte er sich am historischen Stadtgrundriss Berlins. Seine wichtigsten Leitlinien waren:
- Blockrandbebauung: Die traditionellen Berliner Straßen sollten wieder von geschlossenen Häuserzeilen gefasst werden.
- Traufhöhe: Die Gebäudehöhen wurden auf rund 22 Meter begrenzt, um ein einheitliches Stadtbild zu bewahren.
- Materialität: Stimmann bevorzugte steinerne Fassaden statt großflächiger Glasbauten.
- Straßenräume: Plätze und Straßen sollten ihre historischen Proportionen zurückerhalten.
Besonders am Pariser Platz wurde seine Handschrift deutlich. Die Neubauten um das Brandenburger Tor mussten sich harmonisch in das historische Ensemble einfügen – eine Vorgabe, die Investoren und einige Architekten als zu restriktiv empfanden.
Kontroversen und Kritik an Stimmanns Stadtbild: Bewahrer oder Blockierer?
Stimmanns Ansatz wurde von Traditionalisten wie Hans Kollhoff und Josef Paul Kleihues begrüßt, während ihn avantgardistische Architekten wie Daniel Libeskind und Rem Koolhaas scharf kritisierten. Der Vorwurf: Seine strikten Vorgaben behinderten Innovation und schränkten die Kreativität ein.
Ein besonders umstrittenes Beispiel war die Neugestaltung der Friedrichstraße. Während Stimmann hier kleinteilige Parzellierungen und eine geschlossene Bebauung vorschrieb, empörten sich Kritiker über eine vermeintlich monotone Gestaltung. Die Erwartungen an eine lebendige Geschäftsstraße mit architektonischer Vielfalt seien nicht erfüllt worden, so der Vorwurf.
Auch am Potsdamer Platz gab es Debatten. Stimmann konnte dort seine Prinzipien nur bedingt durchsetzen, da internationale Investoren bereits umfassende Konzepte entwickelt hatten. Das Ergebnis war ein Mix aus modernen Hochhäusern und historisierenden Fassaden, der nicht allen gefiel.
Ruhestand ab 2006 und Einfluss über das Amtsende hinaus
2006 ging Hans Stimmann in den Ruhestand, doch er blieb eine streitbare Stimme in der Berliner Stadtdebatte. Immer wieder meldete er sich zu Themen wie der Bebauung des Kulturforums oder der geplanten Neugestaltung des Alexanderplatzes zu Wort.
Seine Kritiker werfen ihm vor, Berlin habe unter seiner Führung Chancen auf eine progressivere, mutigere Architektur verpasst. Seine Anhänger hingegen argumentieren, dass er mit seinem Konzept der „kritischen Rekonstruktion“ die Identität Berlins bewahrt habe und damit langfristig zu einem lebenswerten Stadtbild beitrug.
Nach Stimmann: Was bleibt von seinem Erbe?
Mit seinem Rückzug endete eine Ära der Berliner Stadtplanung – doch die Debatte über sein Werk hält bis heute an. Seine Nachfolger, insbesondere Regula Lüscher, verfolgten einen offeneren, weniger reglementierenden Ansatz. Die Bebauung rund um den Hauptbahnhof oder das Kulturforum zeigen eine größere Vielfalt an Baustilen als zu Stimmanns Zeiten.
Dennoch sind viele seiner Prinzipien erhalten geblieben: Die Traufhöhe von 22 Metern ist weiterhin ein entscheidendes Kriterium für Neubauten in der Innenstadt. Auch die Blockrandbebauung bleibt ein zentrales Element der Stadtentwicklung.
Gleichzeitig gibt es eine schleichende Abkehr von Stimmanns dogmatischer Linie. Projekte wie die geplanten Hochhäuser am Alexanderplatz oder die Neubebauung des Spreeufers zeigen, dass Berlin zunehmend internationale Architekturtendenzen zulässt. In der Diskussion um eine „neue Altstadt“ auf dem alten Stadtgrundriss zwischen Schloss und Fernsehturm wird deutlich, dass seine Ideen weiterhin Einfluss haben – auch wenn sie nicht mehr unumstritten sind.
Ein umstrittener Architekt mit prägenden Leitlinien für das neue Berlin
Berlin war schon immer eine Stadt der Gegensätze – und Hans Stimmanns Erbe ist ein Sinnbild dafür. Seine „kritische Rekonstruktion“ hat das Stadtbild der Hauptstadt geprägt, doch die Stadt wächst und verändert sich weiter. Die strengen Leitlinien weichen zunehmend einer offeneren Architekturpolitik, Hochhäuser rücken ins Zentrum der Debatten, und neue Stadtquartiere entstehen jenseits historischer Vorgaben.
Diese Entwicklungen werfen die Frage auf, ob Stimmanns Prinzipien langfristig Bestand haben oder ob Berlin sich in eine völlig neue Richtung entwickelt. Doch eines ist sicher: Die Diskussion über die richtige Balance zwischen Tradition und Moderne wird noch lange nicht enden – und Hans Stimmanns Name wird dabei immer wieder fallen.
Quellen: Berliner Zeitung, FAZ, Deutschlandfunk, Bauwelt, Pressemitteilung Senatsverwaltung für Stadtentwicklung