Das Kabelwerk Oberspree (KWO) in Berlin-Oberschöneweide, einst modernste Fabrik Europas und Symbol für die industrielle Blütezeit der „Elektropolis“, war über ein Jahrhundert lang ein Zentrum der Kabelproduktion und technischer Innovation. Heute erinnern die denkmalgeschützten Gebäude an die wechselvolle Geschichte eines bedeutenden Industriestandorts.
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ENTWICKLUNGSSTADT Reihe: Industriekultur in Schöneweide & Köpenick
Teil 1 – Das Kabelwerk Oberspree (KWO)
von Wolfgang Leffler
Schöneweide – „Elektropolis“ – war einst einer der größten Industriestandorte Europas. Hat man zu Fuß oder per Rad den Kaisersteg überquert, erreicht man an dessen Ende den Platz am Kaisersteg in Berlin-Oberschöneweide, der auch als „Stadtplatz“ bezeichnet wird.
Auf diesem Areal stand früher das Silolager der letzten großen Investition des KWO – das Werk für Elastaufbereitung (Gummi), das in den Jahren 1981 bis 1984 errichtet wurde. Allerdings musste dazu vorher der Spree Land abgewonnen werden, da das Betriebsgelände des KWO den Platz für eine derart große Baufläche nicht hergab.
Notwendige Expansion des KWO: Die neue Fabrik für Elastaufbereitung
Das Kabelwerk Oberspree (KWO) hatte ursprünglich eine Gummifabrik, aber diese war zum damaligen Zeitpunkt technisch derart verschlissen und von der Produktionskapazität her nicht mehr ausreichend, um die anspruchsvolleren und differenzierten Gummi-Rohmischungen für die Kabelummantelungen zur Verfügung zu stellen.
Das neue Werk für Elastaufbereitung hatte zusätzlich die Produktion von Gummi-Rohmischungen für die Reifenindustrie im Programm. Das Reifenwerk in Schmöckwitz wurde damit täglich beliefert – abgesehen von technischen Störungen, die häufig vorkamen. Eine der vier neuen Produktionslinien produzierte ausschließlich Rohgummi für Schmöckwitz.
Wirtschaftliche Gründe für die Investition in die Gummifabrik
Die Investition in diese neue Gummifabrik im KWO war auch notwendig, um sich von teuren West-Importen loszulösen, da Devisen im letzten Jahrzehnt der Existenz der DDR bekanntermaßen immer knapper wurden.
Vor dem Baubeginn musste die Spree an der Lauffener Straße aufgeschüttet werden. Zwischen 1975 und 1979 wurde das sogenannte „Spreeknie“ an der Oberschöneweider Uferseite um etwa 60 Meter in den Flusslauf hinein aufgefüllt.
Oberschöneweide: Bedeutung der Spree als Verkehrsader in Berlin
Das war mehr als problematisch, denn die Spree war und ist als Verkehrsader in Berlin für den Transport, speziell von Massengütern, enorm wichtig. Damals tangierten die Schubverbände des „Kohlependels“ zwischen dem Hafen Königs Wusterhausen und dem Kraftwerk Klingenberg in Rummelsburg dieses „Spreeknie“, welches nach der Auffüllung ein Nadelöhr für diese unabdingbaren Energielieferanten darstellte.
Die Schubverbände auf der Spree, teilweise mit mehreren Schubprahmen, konnten an dieser nun zu engen Stelle des Spreeknies nicht mehr so einfach wenden oder zwischenparken. Daher mussten in den Jahren 1979–1980 auf der gegenüberliegenden Seite der Spree, am Hasselwerder Ufer in Niederschöneweide, 40 Meter landeinwärts abgetragen werden, um die Enge am Spreeknie zu entschärfen.
Historische Entwicklung von Schöneweide als Industriezentrum
Man darf nicht vergessen, welche Rolle die Spree als Verkehrsweg in Berlin und insbesondere bei der zunehmenden Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts gespielt hat. Die Stadt wuchs enorm schnell, Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden, und dazu benötigte man natürlich Energie, um Schritt zu halten mit dem sich schnell entwickelnden technischen Fortschritt.
Ohne leistungsfähige Kraftwerke war das nicht zu bewältigen, und schon bald zeichnete sich ab, dass die Spree als Verkehrsader den Ansprüchen einer modernen Schifffahrt angepasst werden musste. Für das Industriegebiet Berlin-Oberschöneweide in der Wilhelminenhofstraße und die angrenzenden Quartiere, die mehrheitlich auf der rechten Seite und in unmittelbarer Nähe des Spreeufers ihre Fabrikgelände angesiedelt hatten, war dieser Ausbau der Spree existenziell.
Berlin im 19. Jahrhundert: Ausbau der Spree und die Entstehung neuer Häfen
Ab 1882 wurden große Teile der Spree begradigt, was zur Entstehung neuer Häfen führte. Alte bestehende Hafenanlagen wurden modernisiert, sodass eine Silhouette von Kränen, Schornsteinen und großen Silos das Uferbild der Spree prägte.
Die Anzahl der Lastkähne auf der Spree, die mit Kies, Kohle und anderen Gütern die Stadt versorgten, nahm deutlich zu und hat auch heute noch großen Anteil an einer funktionierenden Logistik. Auch wenn die Transporte zunehmend auf Schiene und Straße verlagert werden, bleibt die Spree ein wichtiger Verkehrsweg in Berlin.
Der Aufstieg von Oberschöneweide: Emil Rathenau und der Aufbau der Industrieanlagen
Der Aufstieg von Oberschöneweide zu einem der bedeutendsten industriellen Zentren Deutschlands begann 1889 mit der Erschließung weiterer Flussauen an der Spree. Die verkehrsgünstige Lage an der Wasserstraße und die Nähe zur Eisenbahnverbindung Görlitz-Berlin waren für die Industrieansiedlung ausschlaggebend.
Der Aufbau der Industrieanlagen auf der „schönen Weide“ begann ab 1895 im Zuge der sogenannten „Radwanderung“, der Auslagerung von Industriebetrieben aus der Stadt in die äußeren Randgebiete entlang wichtiger Verkehrsadern. Emil Rathenau, der Gründer der AEG, erwarb nach 1890 ein Gelände in Oberschöneweide, um seine Produktion zu erweitern.
Berlin-Schöneweide: Architektonische Planung und neue Industriekultur
Zur Realisierung seines neuen Fabrikgeländes beauftragte Emil Rathenau mehrere Architekten, darunter Peter Behrens, Johannes Kraaz, Ernst Ziesel, Gottfried Klemm, Jean Krämer und Paul Tropp, sowohl mit Entwurfsplanungen als auch mit der Ausführung geeigneter Produktions- und Verwaltungsgebäude.
In mehreren Bauphasen entstand ein einheitliches Ensemble aus Hallen- und Stockwerkfabriken, einem Verwaltungsgebäude, in dem Rathenau selbst arbeitete, und einer Fabrikantenvilla, in der der Unternehmer mit seiner Familie wohnte. Die von den Architekten entworfenen und gebauten Produktions- und Verwaltungsgebäude entsprachen einer völlig neuen Industriekultur, die sich in großen, luftigen und hellen Hallen und Büros mit vergleichsweise geringem Geräuschpegel niederschlugen.
Der erste Drehstrommotor und die Elektrifizierung in Deutschland
Die Gebäude wurden hauptsächlich aus den charakteristischen gelben Klinkersteinen, dem sogenannten „Oberschöneweider Klinker“, errichtet. Zur Energieversorgung wurde das Kraftwerk Oberspree 1897 mit dem ersten Drehstrommotor in Deutschland errichtet. Mit der neuen Drehstromtechnik – heute Wechselstrom – konnte man im Gegensatz zum Gleichstrom erstmals die Stromversorgung über weite Entfernungen wirtschaftlich organisieren.
Berlin-Oberschöneweide steht somit für den Beginn der flächendeckenden Elektrifizierung in Deutschland und Europa. Mit der Entwicklung des Drehstrommotors durch die AEG stand diese neue Energie auch für die Revolutionierung der Produktionstechniken.
Die Errichtung des Kabelwerks Oberspree (KWO)
Direkt neben dem neuen Kraftwerk baute die AEG die damals modernste Fabrik Europas – das Kabelwerk Oberspree (KWO), in dem ab sofort auf Dampfmaschinen und umständliche Transmissionsantriebe verzichtet werden konnte. Jede einzelne Maschine konnte direkt durch einen eigenen Elektromotor angetrieben werden.
Am 3. Oktober 1897 wurde das KWO in Betrieb genommen und beschäftigte bereits in kurzer Zeit 1.800 Menschen. Für die Kabelherstellung waren Metallverarbeitung und die Produktion von Isoliermaterialien, wie Gummi und Textilien, erforderlich.
Um Synergieeffekte auszunutzen, baute Walther Rathenau, ältester Sohn Emil Rathenaus, neben dem Kabelwerk eine Automobilfabrik, in der auch Personenwagen, teilweise mit elektrischem Motor, hergestellt wurden (NAG). Die Automobilfabrik wurde in einem von Peter Behrens in den Jahren 1913–1917 errichteten Neubau auf der gegenüberliegenden Straßenseite ausgelagert, sodass das gesamte Gebäude mit der ehemaligen Automobilproduktion als Kraftwerk für die Kabelproduktion genutzt werden konnte.
KWO: Erweiterung und Spezialisierung während des Ersten Weltkrieges
Hauptsächlich während des Ersten Weltkriegs, als Walther Rathenau – der spätere deutsche Außenminister – die Rüstungsproduktion koordinierte, kam es zu weiteren Ausbaustufen im Kabelwerk Oberspree (KWO).
Das KWO konzentrierte sich anfangs auf die Produktion von isolierten Leitungen, darunter auch die ersten Starkstromleitungen bis 10 kV. Bereits 1898, also ein Jahr nach Aufnahme der Produktion, wurden ein Kupferwalzwerk und eine Drahtzieherei in Betrieb genommen. 1899 begann man mit der Fernsprechkabelerzeugung und ab 1903 wurden erste biegsame Starkstromkabel mit Papierisolierung hergestellt.
Internationale Großaufträge und Expansion des Kabelwerks Oberspree
Mit der Anfertigung und der Verlegung von 12-kV-Massekabeln für die Londoner Underground Railroad konnte 1904 ein erster internationaler Großauftrag realisiert werden; weitere derartige Aufträge sollten folgen. Das KWO entwickelte aufgrund seiner Forschungen und seines technischen Know-hows seine Produktpalette ständig weiter und lieferte von 1911 bis 1914 das erste 300-kV-Kabel für die Deutsche Überseeische Electricitätsgesellschaft in Buenos Aires.
Erste Fernverbindungen mit KWO-Technik wurden eingerichtet; so kam 1913 eine telefonische Verbindung zwischen Berlin und London zustande, unter Einsatz von im KWO gebauten Relais. Aufgrund der guten Auftragslage wurde 1913 das Fabrikgelände um weitere 62.000 Quadratmeter erweitert; die Zahl der Beschäftigten stieg auf 8.000.
Technische Entwicklungen der 1920er Jahre, Wirtschaftskrise und Wiederaufstieg während des Nationalsozialismus
Die AEG beteiligte sich 1920 an der Gründung der Deutschen Fernkabelgesellschaft und 1923 wurde die Produktion von Gummischlauchleitungen aufgenommen; ein weiterer Höhepunkt war die Herstellung eines 42 km langen Seekabels. Weitere wichtige Entwicklungen im KWO waren die 1928 erstmals produzierten Koaxialkabel als Antennenzuführungskabel für Rundfunksender. 1931 erhielt die AEG seitens der Firma PIRELLI die Lizenz zur Fertigung von Ölkabeln, die ab 1932 im KWO in die Produktion gingen.
Nach der Weltwirtschaftskrise 1930/31 und dem Abbau des Personals auf 2.700 Beschäftigte nahmen die Aufträge während des Nationalsozialismus wieder zu. 1938 verlief die Verlegung einer 150-kV-Trasse von Rotterdam nach Den Haag erfolgreich. Die Weltwirtschaftskrise veranlasste die Fabrikanten zur Einführung der Fünf-Tage-Woche. Im Jahr 1939 betrug die Produktionsfläche des KWO 184.000 Quadratmeter und die Zahl der Beschäftigten wuchs auf 9.123 an.
Zerstörungen und Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg: Neuanfang von 1946 bis 1967
Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Teile des Werkes zerstört oder brannten aus, wie die Spreehalle am Spreeufer, ein damals markantes Bauwerk.Nach dem Krieg wurde das KWO zunächst aus AEG-Besitz in die Treuhänderschaft des Berliner Senats übergeben und danach in eine sowjetische AG (SAG) mit einem sowjetischen Generaldirektor umgewandelt.
Ab 1952 wurde das KWO ein selbständiger VE-Betrieb und es erfolgte eine stärkere Konzentration auf die Kabelproduktion, nachdem zuvor mehr oder weniger Gebrauchsgüter für den alltäglichen Bedarf hergestellt worden waren. 1957 hielt auch im KWO die 45-Stunden-Woche Einzug. In dieser Zeit leistete das KWO Hilfe bei der Rekonstruktion eines Kabelwerks in China und die technischen Entwicklungen gingen weiter.
Internationale Beziehungen und Expansion in den 1960er Jahren
Durch die permanente Weiterentwicklung der verschiedenen Spezialkabel entwickelten sich immer mehr internationale Handelsbeziehungen. 1965 bestanden unter anderem Exportbeziehungen zu 40 Ländern. Entsprechend den international gültigen Fertigungsregeln wurden zwischen 1966 und 1968 in allen Kabelprodukten des KWO die grün-gelbe Isolation für Schutzleiter eingeführt, die noch heute gültig ist.
1967 erfolgte die Gründung des Kombinats KWO, das bis 1989 insgesamt 13 Betriebe umfasste und circa 16.000 Beschäftigte hatte. Mit einer Warenproduktion von rund 3 Milliarden DDR-Mark und den starken Außenhandelsbeziehungen war das KWO zum damaligen Zeitpunkt und kurz vor Ende der DDR das exportstärkste Kombinat der DDR-Industrie.
Wichtige Meilensteine aus dieser Zeitspanne sind die Inbetriebnahme der Zentralen Plastaufbereitung (PVC) im Jahr 1974, die erste 10,5 km lange Lichtwellenleiterstrecke (LWL) der DDR, gemeinsam mit der Deutschen Post in Berlin, die Nil-Suarezkanalkreuzung mit Nondraining- bzw. Ölkabel, die ab 1981 bis 1984 neu gebaute „Elastaufbereitung“ (Gummifertigung) und die Einführung von Aluminium-Kupfer-Verbundleitern (Al/Cu), auch bedingt durch den Kupfermangel zu dieser Zeit.
Wendezeit und das Ende der KWO-Ära – Übernahme durch BICC und schrittweiser Rückzug
Das Kombinat KWO zerfiel praktisch mit dem Ende der DDR, als gleichzeitig sechs Kombinatsbetriebe aus dem Kombinat ausschieden; die verbliebenen sieben Werke schlossen sich zur Holding KWO Kabel AG zusammen. Die Wiedervereinigung trug dann zum endgültigen Niedergang bei: Die Treuhand übernahm erneut und reduzierte schrittweise die Kabelproduktion am Standort Oberschöneweide.
Gleichzeitig wurden zwei neue CV-Anlagen zur Herstellung von VPE-Mittel- und Hochspannungskabeln angeschafft und in Betrieb genommen, da die Fertigung dieser Erzeugnisse in den ausgegliederten Werken Schwerin und Meißen verblieben war. Die nun hergestellten Produkte umfassten weiterhin elektrische Kabel und Zubehör.
Am 1. März 1992 übernahm die British Insulated Callender’s Cables & BICC Ltd. das Management der Kabelwerke Oberspree, Köpenick, Schönow und Adlershof. Durch den Besuch von Königin Elisabeth II am 22. Oktober 1992 sollte das große Interesse der Briten am Standort Oberschöneweide demonstriert werden. Bereits im Jahr darauf erwarb die BICC die KWO Kabel GmbH und ließ in Oberschöneweide ab 1997 unter dem Namen BICC KWO Kabel GmbH weiterhin Kabel und Drähte produzieren. Es wurden nun auch Ingenieurdienstleistungen für Elektrounternehmen sowie Management- und Unternehmensberatungen angeboten.
Das Ende der Kabelproduktion in Oberschöneweide und Denkmalschutz: Industriegeschichte am Spreeufer
Ende der 1990er Jahre trennte sich die BICC von der Kabel-Großproduktion. Die Fertigung am Standort Oberschöneweide wurde eingestellt, die Anlagen verkauft, und ein Teil fusionierte kurzzeitig mit der Firma „Kaiserkabel“ an deren Standort in Berlin-Schöneberg. Die Produktion der Lichtwellenleiter-Kabel (LWL) wurde auf ein Industriegelände am Groß-Berliner Damm verlagert.
Die auf dem Areal Wilhelminenhofstraße bis zum Spreeufer erhalten gebliebenen Gebäude des früheren Kabelwerks Oberspree wurden unter Denkmalschutz gestellt und in den späten 1990er Jahren teilweise restauriert. Heute dienen sie zu großen Teilen der Hochschule für Technik und Wirtschaft als Campus.
Vom Industriezentrum zum Wissenschaftsstandort
Eine der großen ehemaligen Fabrikhallen direkt am Spreeufer wird seit der Sanierung und einigen Verschönerungen im Inneren als Ort für größere Kulturveranstaltungen genutzt, so zum Beispiel bereits im Jahr 2007 und im September 2009 für Konzerte der Berliner Philharmoniker unter Leitung von Sir Simon Rattle.
Und so verlor ein ehemaliges traditionelles Industrieareal, einst das modernste Industriegebiet Europas, die Bedeutung, für die es einst stand. Oberschöneweide hat sich nun zu einem Wissenschaftsstandort gewandelt. Dort, wo in der Vergangenheit Starkstromkabel gefertigt wurden, entwickeln heute Studierende regenerative Energiesysteme, konzipieren Computerspiele und neue Hardware-Komponenten. Doch Kabel werden in der Wilhelminenhofstraße immer noch produziert, durch die BGF, die Berliner Glasfaser GmbH.
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