In Neukölln und Schöneberg sind zwei innovative Wohnhäuser nach einem nachhaltigen Konzept des Büros Praeger Richter Architekten entstanden. Das Konzept des “Ausbauhauses” gilt als Vorbild für müllreduziertes Bauen und berücksichtigt den Lebenszyklus moderner Gebäude.
© Fotos: ENTWICKLUNGSSTADT BERLIN
Text: Björn Leffler
Das Thema klima- und ressourcenangepasstes Bauen wird auf vielen Fachkongressen und Veranstaltungen der Architekten- und Baubranche mit hoher Priorität behandelt und intensiv diskutiert. Um den anfallenden Müll beim Bauen zu reduzieren, werden unterschiedliche Baukonzepte verfolgt.
Denn das Thema Müllervermeidung in der Baubranche kann nicht hoch genug bewerte werden. Mehr als 50 Prozent des gesamten Müllaufkommens in Deutschland sind Bauabfälle, die nur minderwertig wiederverwendet oder deponiert werden.
Die Baubranche verursacht 55% des deutschen Müllaufkommens
Ein Baukonzept des in Berlin ansässigen Büros Praeger Richter Architekten hat sich diesem Thema bereits vor über einem Jahrzehnt angenommen und ein völlig neuartiges Wohnkonzept entwickelt.
Die Architekten umschreiben ihre Herangehensweise wie folgt: “Neubauten von heute werden in Zukunft nicht mehr abgerissen und entsorgt, sondern materialbewusst modernisiert oder umgebaut. Darum sind die Materialien des in Holz-Beton-Hybridbauweise errichteten Gebäudes adäquat zu ihrem Lebenszyklus eingesetzt: Die im dichten urbanen Kontext positionierte dauerhafte Tragstruktur ist in Beton errichtet und ermöglicht auf Dauer eine hohe Nutzungsflexibilität. Die Fassade ist komplett als rückbaubare Holzkonstruktion ausgeführt und mit vorvergrauter Lärchenschalung vor der Hinterlüftungsebene verkleidet.”
Wohnkonzept: Freie Grundrissgestaltung, flexible Lochfassaden
Dank der freien Gestaltung der Grundrisse und einer flexiblen Lochfassade sollen zahlreiche Grundrissvarianten ermöglicht werden, ohne die Gesamtstruktur des Hauses zu beeinträchtigen. Ein vielseitiger Ausbau bleibt durch das Fehlen tragender Wände innerhalb der Wohnungen also bewusst möglich.
Alle Wohnungen in diesen “Ausbauhäusern” genannten Wohnobjekten bieten eine großzügige Raumhöhe von rund drei Metern. Zusätzlich verfügt jede Wohnung über eine geräumige Süd-Loggia mit einem einfachen Sonnenschutzvorhang, der den Wohnraum nach außen erweitert.
“Ausbauhaus”: Grundstruktur, die für Veränderungen offen ist
Das “Ausbauhaus” soll somit eine Grundstruktur bieten, die von vornherein offen für Veränderungen ist und so eine aktive und sehr individuelle Gestaltung durch die Nutzer ermöglichen soll.
Die Konzeption dieser Gebäude verfolgt die Vision von Nachhaltigkeit über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Angesichts der wahrscheinlichen Zukunft, in der Gebäude nicht mehr abgerissen, sondern umgebaut oder saniert werden, wählen die Architektinnen und Architekten die Materialien entsprechend ihrer Lebensdauer für die jeweilige Ausbauphase aus.
Erhalt statt Abriss: Materialien orientieren sich am Lebenszyklus der Gebäude
Das Tragwerk, bestehend aus Stahlbeton, bildet das robusteste Element dieses Gebäudetyps, einschließlich Brandwänden, Decken und des Erschließungskerns. Durch seine großzügigen Spannweiten ist es auf Flexibilität in der Nutzung ausgerichtet.
Um Kosten zu sparen, werden die Betonoberflächen unbehandelt belassen. Im Gegensatz dazu besteht die Fassade aus einer demontierbaren Holzkonstruktion, die als hinterlüftetes Holzständerwerk mit gesteckter Holzfaserdämmung ausgeführt ist.
In Berlin haben Praeger Richter Architekten zwei Wohnhäuser gebaut
Die vorgealterte Lärchenverschalung ist verschraubt, was eine einfache Reparatur oder den Austausch einzelner Bauteile ermöglicht. In Berlin haben Praeger Richter Architekten bereits zwei solcher Projekte realisiert.
Das eine ist auf einem Baugrundstück am Bahnhof Südkreuz entstanden und wurde erst kürzlich fertiggestellt. Ein weiteres Bauprojekt wurde bereits vor zehn Jahren abgeschlossen und befindet sich in der Braunschweiger Straße in Berlin-Neukölln.
Neukölln: “Ausbauhaus” mit 24 Wohneinheiten wurde 2014 fertig
Das Neuköllner “Ausbauhaus” ist ein Mehrfamilienhaus mit 24 Einheiten für Wohnen und Arbeiten, direkt an der Ringbahn gelegen. Ein gemeinschaftlicher Hof vor dem Eingang bietet Fahrradstellplätze, einen Spielplatz und Sitzgelegenheiten. Gärten sind an der Südseite angelegt.
Die robuste Gebäudestruktur wurde größtenteils in Vorfertigung mit Spannbetondecken und Betonhalbfertigteilen errichtet. Die klare Phasentrennung zwischen Rohbau und Ausbau, gepaart mit einem hohen Vorfertigungsgrad, ermöglichte eine Bauzeitverkürzung um etwa 12 Monate im Vergleich zu ähnlichen Projekten.
Schöneberg: Eigentumswohnungen, Mietwohnungen, Gewerbe
In Schöneberg erhielt die verantwortliche Baugruppe im Rahmen des Konzeptverfahrens “Schöneberger Linse” im Jahr 2019 den Zuschlag für das Grundstück. Auf sechs Etagen beherbergt das Gebäude eine Mischung aus Eigentumswohnungen, geförderten Mietwohnungen und kiezgebundenem Gewerbe.
Bodentiefe Holzfenster und ein durchgehender Austritt entlang der gesamten Fassade erweitern den Wohnraum nach außen. Der Innenausbau der Wohnungen, der als kurzlebigster Teil des Hauses gilt, wurde weitgehend mit nachwachsenden Baustoffen und weitgehend frei von Verbundstoffen realisiert.
Alle verwendeten Materialien sind verschraubt, nicht verklebt
Speziell für die Zimmerwände wurde eine trocken montierbare Holzständerwand entwickelt, die diese Prinzipien berücksichtigt. Die verwendeten Materialien sind sichtbar verschraubt, gelegt oder gesteckt und können einfach demontiert und an anderer Stelle wiederverwendet werden.
Einige Oberflächen bleiben unbehandelt oder werden mit sogenannten “wohngesunden” Lasuren versehen. Dadurch wird zukünftig ein einfacher Umbau von nicht-tragenden Bauteilen ermöglicht und eine sortenreine Trennung der Materialien bei Modernisierungen erleichtert.
Dank des modularen Ansatzes, bei dem die Nutzung als Momentaufnahme in einen unveränderlichen Setzkasten gestellt und ebenso einfach wieder herausgenommen wird, ist der Abriss von vornherein die unwirtschaftlichere Variante. Dies macht das Konzept “Ausbauhaus” so spannend – und durchaus nachahmungswürdig.
Weitere Bilder zum Projekt findet Ihr hier:
Quellen: Baunetz, Der Tagesspiegel, Bauwelt, Bauverlag BV GmbH, Praeger Richter Architekten
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2. November 2024