In Berlin leben laut aktuellem Zensus rund 132.000 Menschen weniger als bislang gedacht. Dies hat negative Auswirkungen auf den eh schon angespannten Finanzhaushalt der Hauptstadt. Doch woher stammen die hohen Abweichungen zwischen Prognose und Wirklichkeit?
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Text: Wolfgang Leffler
Stellt sich der im Jahr 2011 prognostizierte Bevölkerungszuwachs für 2022 tatsächlich so schwach dar wie jetzt statistisch ermittelt oder sind die von den Meldebehörden und Standesämtern an das Amt für Statistik gelieferten Daten so lückenhaft, dass eine derartige Differenz zwischen Soll und Ist entstanden ist?
Wenn dem so ist, hätte das für den Berliner Senat wohl verheerende Folgen und würde weitere Einsparungen beim eh schon unter Sparzwang ächzenden Finanzhaushalt nach sich ziehen.
In Berlin leben knapp 132.000 Menschen weniger als bislang gedacht
Ursache für diesen Lapsus ist eine Zensus-Erhebung zum Stichtag 15. Mai 2022, wonach in Berlin 3.598.006 Einwohner lebten und damit knapp 132.000 weniger als prognostiziert.
Sollte dies den Realitäten entsprechen, müsste Berlin rückwirkend ab 2022 auf knapp eine halbe Milliarde Euro pro Jahr verzichten, denn – so die Zensus-Regelung – die Einwohnerzahl eines Bundeslandes ist entscheidend für die Steuerzuweisungen des Bundes und den Länderfinanzausgleich zwischen den Ländern.
Zensus-Regelung verschärft Finanzlage des Berliner Senats
Der letzte Zensus im Jahr 2011 wies für Berlin rund 3,3 Millionen Einwohner aus, auf dessen Basis die Bevölkerungsentwicklung linear auf 3,73 Millionen Einwohner für das Jahr 2022 hochgerechnet wurde. Tatsächlich lebten zum Stichtag aber nur 3,59 Millionen Menschen in Berlin und somit 3,5 Prozent weniger als angenommen.
Nach Aussagen des amtierenden Berliner Finanzsenators Evers (CDU) bedeutet das für den Berliner Finanzhaushalt ab 2022 eine Minderung der Steuereinnahmen von 450 Millionen Euro, die sich bis 2028 auf gut 550 Millionen Euro jährlich hochschrauben wird.
Schon vor den Ergebnissen des Zensus war die finanzielle Lage angespannt
Für den Berliner Haushalt bewirkt das eine weitere Verschärfung der Finanzlage, denn schon vor den Ergebnissen des Zensus war die finanzielle Situation abgespannt. Die Corona-Krise und der Ukraine-Krieg haben die Ausgaben ansteigen lassen, wobei die Einnahmen nicht annähernd im gleichen Umfang gestiegen sind.
Auch für das Land Berlin gilt – wie für den Bund insgesamt – die Schuldenbremse, so dass man die Ausgaben in den kommenden Jahren herunterschrauben muss, um einen ausgeglichenen Finanzhaushalt aufstellen zu können.
Nach dem Zensus: Prüfung der Datenqualität der Melderegister
Ex-Finanzsenator Kollatz (SPD) fordert nun angesichts dieses desolaten Tatbestandes und der damit anstehenden Nachzahlungen eine Aktualisierung und Überprüfung der Melderegister in Berlin, denn bereits in seiner aktiven Zeit als Berliner Finanzsenator – bis 2021 – hatte er vor den Folgen der eventuellen Zensus-Nachzahlungen gewarnt.
Das Bundesamt für Statistik erhält die Daten von den Behörden aus den Bezirken. Wenn dort Unregelmäßigkeiten, sprich liegengebliebene und nicht aktualisierte Neuanmeldungen, vor sich hinschlummern, entstehen derartige ‚Unschärfen‘ in der Bevölkerungsfortschreibung, die diese großen Abweichungen zwischen Prognose und tatsächlichem IST entstehen lassen.
Warum gibt es so große Lücken zwischen Prognose und Wirklichkeit?
Bleibt es bei dieser großen Differenz, hat das für den Berliner Haushalt negative finanzielle Auswirkungen. Daher bleibt nicht viel Zeit zur Aufdeckung der großen Lücke. Beim Vergleich der Bevölkerungsentwicklung im Bund ist schon auffällig, dass hier nur eine negative Abweichung von 1,6 Prozent festzustellen ist, in Berlin hingegen von 3,5 Prozent, was angesichts des Zustroms auf Berlin schon aufhorchen lässt.
Hinterfragt werden muss auch, welche Auswirkungen die nicht registrierten Zugänge und Abmeldungen haben, wo also durch das Verhalten der Bürger selbst Unschärfen entstehen.
Nun sind der Berliner Senat und die Behörden in den Bezirken gefragt, die Qualität der Meldedaten schleunigst auf Vordermann zu bringen, denn bisher hat Berlin von den zu hoch angesetzten Bevölkerungszahlen profitiert.
Quellen: Der Tagesspiegel, Statistisches Bundesamt, NDR
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5. November 2024
Wie viele Wohnungen, ja ganze Stadtteile wurden in Berlin seit 1990 gebaut? Wie viele leerstehende Wohnungen im Osten der Stadt bezogen? Wie viele WGs in sonst halb leer stehenden Altbauten gegründet? Wie viele Neubauten in Baulücken gepresst? Und dann soll die Einwohnerzahl nach über 30 Jahren nur um ca. 300.000 Einwohner gestiegen sein?
Ich kann das mittlerweile auch nicht mehr glauben. Alleine der Ukraine Krieg hat fast 100.000 Flüchtlinge in die Stadt gespült. Wo sind die alle hin? Und wieso gibt es chronischen Wohnungsmangel trotz tausender, nachvollziehbarer und registrierter Neubauten?
Der Zensus ist aus meiner Sicht unglaubwürdig!
Ich hatte für den Zensus 2010 gearbeitet und bereits damals hat sich herausgestellt, dass die Qualität der Melderegister EXTREM schlecht ist (Teils von Kommune zu Kommune unterschiedlich), teils haben wir sehr merkwürdige Konstrukte entdeckt, die einem nur schwer daran glauben lassen, dass es sich dabei um Zufall handelt (man kann mal Polizisten fragen, was die bei Fahndungen etc. im Melderegister für Ungereimtheiten finden…) . Die Kommunen partizipieren über die Zuweisungen direkt an der Einwohnerzahl, man schneidet sich also direkt ins eigene Fleisch, wenn man seine Melderegister sehr gut führt und Fehler konsequent behebt. Die “Karteileichen” sind insbesondere bei einer Nicht-EU Bevölkerung am Höchsten, also mich verwundert diese Zahl für Berlin überhaupt nicht. Nur nebenbei: Ich glaube die reduzierten Einnahmen für Berlin ergeben sich hauptsächlich aufgrund der verringerten Zuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich, das sind keine Steuereinnahmen ;-)
@Flip: Die Zahlen der Meldeämter mögen falsch sein, ob die Zahlen des Zensus’ richtig sind, ist dann auch noch die Frage. Nachdem Volkszählungen mit völlig irrtionalen Argumenten in diesem Land nicht mehr durchgeführt werden können, werden stattdessen Mikro-Volkszählungen durchgeführt, die im Ergebnis nur zu statistischen Hochrechnungen führen. Dabei ist der grenzenlose Glaube an Statistiker unermesslich – und falsch. Ich kann da nur lachen!
Was Ihre Verbindung zwischen Wohnraummangel und nunmehr festgestellter Bevölkerungszahl angeht: Es werden Unmassen von Wohnungen von internationalen “Schnöseln” als Zweitwohnungen genutzt (man könnte die Menge ja mal aufklären, indem man den Senat um Auskunft angeht über die Zweitwohnungssteuer) und es gibt eine Unmasse an illegalen Ferienwohnungen. Es gibt eine Unmasse an möblierten Wohnungen die wochen- oder monatsweise für irrwitzige Preise an Handwerker, Gewerbetreibende usw. vermietet werden. Die Bezirke sind nicht in der Lage (Personalmangel) und gegebenenfalls nicht willens, das aufzuklären und – soweit rechtlich möglich – zu unterbinden!
@Böhme: Das ist so nicht ganz richtig, der Mikrozensus schreibt die Bevölkerungszahl unter den Jahren fort, der “große” Zensus wie 2010 und nun mit Stichtag 2022 (ca. alle 10 Jahre) ist dann eine registergestützte Vollerhebung bei der dann Stichproben und Prüffälle im erheblichen Umfang erhoben werden. Über das statistische Modell kann man sicher streiten, mir ist es bei diesen Zensus auch nicht mehr bekannt. Ich kann nur sagen, dass bei meiner damaligen Arbeit das Melderegister ins sehr vielen Fällen nachweisbar sehr schlecht war, die Prüffälle waren – ich schätze mal zu über 95% berechtigt und nachvollziehbar – vom einfachen Trafohäuschen bei dem Personen gemeldet waren zu Lagerhallen bei denen hunderte Personen gemeldet waren bis hin zu Adressen die es gar nicht gab. Die Prüffälle aus der Stichprobe waren hingegen kaum auffällig, also soweit ich es beobachten konnte, gab es hier ein sehr gutes, belastbares Ergebnis.