Briefe aus T.
Teil 2 – HILDEGARD
21. September 2005
Hallo Robert.
Ein richtiger, echter Brief, wow. Ich glaube, ich habe den letzten Brief vor über einem Jahr oder so bekommen, von meiner Schwester zum Geburtstag. Das ist richtig was Besonderes geworden, finde ich.
So richtig gefreut habe ich mich eigentlich nicht, als ihn mir meine Mutter ins Zimmer gereicht hat. Wenn Du mich direkt angesprochen hättest, hätte ich ganz sicher mit Dir gesprochen. Als ich Dich gestern an der Tankstelle gesehen habe, hast Du wirklich angestrengt versucht, überall hinzusehen, nur nicht zu mir.
Aber gut, dann ein Antwortbrief. Warum nicht.
Ehrlich gesagt habe ich nicht von Dir erwartet, dass Du irgendetwas sagst, als ich Dich mit zum Friedhof genommen habe. Ich wollte nur, dass Du verstehst, und Du hast verstanden. Nichts zu sagen, das war das Richtigste, was Du tun konntest. Mich in den Arm zu nehmen, war genau das, was ich in diesem Moment gebraucht habe.
Aber küssen… Robert, das hatten wir doch schon mal. Vier Jahre mit ihm, das werfe ich nicht einfach so weg. Ich bin froh, dass ich hier in dieser Einöde überhaupt irgendjemanden gefunden habe, der mal etwas weiter als bis an die Grenzen unserer „Stadt“ denken kann. Und manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass er mich wirklich versteht. Das ist vielleicht nicht viel, aber vermutlich mehr, als man hier erwarten kann. Und auch er will hier irgendwann weg. Das ist eine Perspektive. Wenn Mario seine Ausbildung beendet hat, wird es uns hier wohl nicht mehr lange halten, denke ich. Auch wenn ich meine Mutter vermissen werde, aber ich muss ja nicht gleich nach Australien auswandern.
Und darüber hinaus war’s wirklich unpassend. Aber ich bin nicht deswegen nicht mehr zu Dir ins Auto gestiegen. Ich wollte einfach nur allein sein in diesem Moment. Ich bin es so selten und wusste auch nicht, was ich hätten sagen sollen. Ich wollte Dir das einfach nur zeigen, um zu erklären, warum ich damals so reagiert habe.
Hildegard Bernheimer war die Schwester meiner Großmutter. Ich habe gestern noch einmal unsere Fotoalben angesehen, es gibt nur ganz wenige Fotos von ihr. Aber einen alten Zeitungsartikel habe ich gefunden, in eines der Alben eingelegt. Und ganz unten ist ein großes Foto, das Hildegard auf dem Schoß von Richard Eichberg zeigt, 1932 in Thyrow. Ich glaube, es ist dort aufgenommen, wo heute das Gemeindehaus ist. Es sieht zumindest so aus. Sie grinst verschmitzt, und in der Sonne glänzen ihre langen, geflochtenen Zöpfe. Sie war da ungefähr fünf oder sechs Jahre alt, glaube ich.
Ich weiß nicht, wie sie gestorben ist. Angeblich weiß niemand das so genau. Sie kam an diesem Abend nicht nach Hause und dann haben sie sie auf dem Feld hinter dem Hühnerstall gefunden, den sie wohl damals hatten, auf dem Bauch liegend. Jemand hatte sie mit einem Messer oder einer Sense angegriffen. Sie war schon tot, als sie sie fanden.
Meine Oma hat nur ein einziges Mal in ihrem Leben darüber gesprochen. Da war ich selbst erst acht oder neun und saß mit ihr in ihrer kleinen Küche. Ich hab sie nie weinen sehen, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Bis auf dieses eine Mal. Sie wissen nicht, wer es war, hat sie gesagt. Dann sprach sie nicht weiter und ich hielt sie einfach nur fest.
Hildegard war die letzte, die auf dem Friedhof begraben wurde, bis heute.
Vielleicht sehe ich Dich ja, wenn ich zu Dir rüberfahre und Dir den Brief in den Briefkasten einwerfe. Aber wenn nicht: fühl Dich gedrückt von mir. Und schick mir ruhig wieder mal ne SMS. Ich werde dann auch antworten, versprochen. Und Schmidti… also mal ehrlich, diesen Typen sollte man auch scheißen finden, wenn man keine jüdischen Vorfahren hat. Da darfst Du mich gern zitieren.
Ach und… wenn es nicht unbedingt genau dieser Friedhof gewesen wäre, hätte ich Dich vermutlich wirklich geküsst. Aber das richtige Timing war irgendwie noch nie Deine Stärke.
Aber versuch‘s nicht nochmal, bitte – ich kann mir nicht leisten, schwach zu werden.
Deine Schweigerin.
Den ersten Teil der Geschichte findet Ihr auf der Seite STORY
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