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Briefe aus T.
Teil 6 – Hermann
27. August 2006
Meine liebe Hanna.
Es ist lange her, dass ich mich hingesetzt habe, um der kleinen Hanna einen Brief zu schreiben. Wenn ich mich recht entsinne, warst Du 12 oder 13 Jahre alt und gerade auf Deiner ersten Klassenfahrt in Burg. Das ist sehr lange her, und aus der kleinen Hanna ist eine stattliche, selbstbewusste junge Frau geworden, die genau weiß was sie will und weiß was sie tut. Das war zumindest der Eindruck, den ich stets hatte.
Aber ich habe gemerkt, dass Du irgendwann im Verlauf des letzten Jahres diese Sicherheit und Zielstrebigkeit verloren hast. Und das ist etwas, was nie hätte passieren sollen.
Seit Du nach Berlin gezogen bist, hatte ich nicht oft die Gelegenheit, Dich zu sehen oder einmal in Ruhe mit Dir zu sprechen. Ich habe das Gefühl, dass Du mir aus dem Weg gehst, und ich habe das Gefühl, dass ich nicht unschuldig daran bin. Dass Du entschieden hast, nach Berlin zu ziehen, das werfe ich mir und nur mir allein vor. Seit unserem Gespräch damals im Auto steht etwas zwischen uns, das weiß ich sehr gut. Vielleicht kann ich mit diesen Zeilen dazu beitragen, dass sich alles wieder einpendelt. Ich hoffe es sehr. Das sollst Du wissen.
Ich habe mich in hier in unserer kleinen Küche niedergelassen, in der wir so oft gesessen und gelacht und „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt haben, weißt Du noch? Ich mag das Licht der kleinen Wandlampe, die Dori letztes Jahr angebracht hat. Ich sitze hier viel lieber als in meinem eigenen Zimmer. Es erinnert mich ein bisschen an die flache Küche, in der wir früher immer saßen, als wir noch zusammen mit meinen Eltern gelebt haben. Die Steinfliesen waren furchtbar kalt, aber wir hatten fließendes Wasser aus einem Kupfer-Wasserhahn in der Wand. Am Fenster standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle, und in der Mitte des Raumes war eine längere Tafel aufgestellt, an der wir immer gemeinsam gegessen haben, die ganze Familie.
Es sind Erinnerungen an eine andere Zeit. Ich habe mich vor langer Zeit damit abgefunden, dass ich niemals wieder in dieser Küche und in diesem Haus sitzen und leben werde. Meine liebe Hanna, damit solltest auch Du Dich abfinden können. Aber ich weiß, dass Du Dich mit einer so kurzen Erklärung nicht zufrieden geben wirst. Aber ich hoffe sehr, dass Du das, was in diesem Brief steht, für Dich behalten kannst. Denn sonst hat mein Schweigen über all die Jahre keinen Sinn gehabt, gar keinen.
Ich weiß, Deine Mutter hat Dir schon einmal von unserem Versteck im Kirchturm erzählt. Manchmal habe ich mir in dieser grauenhaften Zeit fast gewünscht, entdeckt und sofort erschossen zu werden, damit dieses Martyrium endlich eine Ende hat. Ich weiß, es klingt furchtbar, aber es war wirklich irgendwann kaum noch auszuhalten. Vor allem in den Wintern.
Als der Krieg vorbei war, drang die Nachricht sehr schnell zu uns. Es war ein heißer Tag, das weiß ich noch sehr genau. Pastor Meirich stürmte geradezu die Treppen des Kirchturms herauf, um uns freudestrahlend mitzuteilen, dass Generaloberst Jodl eine bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnet hatte. Er war ganz verschwitzt, und seine Augen strahlten, ich sehe ihn noch heute vor mir. „Sie haben es überstanden!“, sagte er ganz leise, als wäre immer noch jemand da, der uns entdecken und verraten könnte. Und dann, noch einmal, etwas lauter: „Sie haben es überstanden!“ Opa und ich sahen uns an und wussten gar nicht so recht, wie wir darauf reagieren sollten. Opa umarmte Herrn Meirich dann urplötzlich und sie hielten sich sehr lange fest. Opa weinte leise, für ein paar Minuten. Sie standen dort und weinten. Ich saß einfach nur da und wusste nicht, was mich erwarten würde, wenn ich diesen Turm zum ersten Mal seit fast dreieinhalb Jahren wieder bei Tageslicht verlassen würde. Aber so einfach war es nicht, wir trauten uns nicht, einfach nach draußen zu gehen und in der Gegend herumzuspazieren, als wäre nichts gewesen. Wir hatten Pastor Meirich gebeten, uns noch so lange Unterschlupf zu gewähren, wie wir es wollten. Er willigte ein. Er verstand, dass es nicht so einfach war, in ein Dorf zurückzukehren, in dem dieselben Menschen lebten, die uns vor ein paar Wochen noch an die Gestapo verraten oder gleich gelyncht hätten.
Was würden sie mit uns tun? Wie würden sie uns begegnen? Was würden sie sagen? In der Kirche fühlte ich mich sicher. Opa begann dann, unsere Versorgung selbst in die Hand zu nehmen. Er begann, mit dem Wenigen zu handeln, dass wir noch hatten, und versuchte, Arbeit auf den umliegenden Gehöften zu finden, um uns irgendwie eine oder zwei Mahlzeiten am Tag zu organisieren. Manchmal traute ich mich hinaus auf den Friedhof und saß auf einer kleinen Holzbank direkt an der Kirchenmauer. Heute gibt es sie nicht mehr, sie war schon damals sehr brüchig gewesen.
Wenn die Leute, die an der Dorfkirche vorbeiliefen, zu mir herübersahen, dann glaubte ich, es in ihren Gesichtern lesen zu können: „Jude.“ So schauten sie mich an – vorwurfsvoll, verbittert, hasserfüllt. „Jude“. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, ich weiß es nicht. Viele fragten sich vielleicht einfach, wer ich überhaupt bin. Weiter als einen Meter weg von der schützenden Kirche traute ich mich nicht. Aber dann, eines Tages, das war im August, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, kam Opa mit einem kleinen Beutel Kartoffeln zur Kirche zurück. Ich saß draußen und wartete schon auf ihn, es war heiß. Er setzte sich zu mir und machte mir klar, dass wir eine richtige Bleibe finden mussten, bevor Herbst und Winter kamen.
„Es ist Zeit.“, sagte er, so kurz und knapp, wie er immer gesprochen hatte. So klar und mutig, wie er immer gewesen war. Er war entschlossen, zum Hof zurück zu gehen. Er wusste, genauso wie ich, was uns erwarten würde – ein Zuhause, das nicht mehr unseres war. Und genauso wenig wie ich wusste er, was wir tun würden, wenn wir vor unserem Hof stehen und von draußen hinein starren würden – als Fremde in der Heimat. Der Pastor hatte uns noch während des ersten Turmjahres erzählt, dass bereits eine andere Familie auf unserem Hof lebte. Ich kann nicht sagen, dass es mich damals geschockt hätte, denn das einzige Ziel in dieser Zeit, war überhaupt nur, am Leben zu bleiben. Alles andere – Haus, Hof, Familie, Träume – das hatten wir längst schon aufgegeben. Mir war egal, wer dort lebte. Aber als wir von Meirich erfuhren, dass ausgerechnet die Familie des damaligen Trebbiner Bürgermeisters unseren Hof bezogen hatte, war es schon ein Schlag. Hermann war von jeher ein strammer Nazi gewesen.
Unser Hof gehörte noch gerade so zu Mietgendorf. Vielleicht erinnerst Du Dich ja. Als Du noch klein warst, so vier oder fünf, waren wir einmal dort. Wir sind sogar ganz nah an unserem alten Hof vorbeigelaufen. Natürlich wusstest Du nicht, wo Du warst und dass nicht unweit von dem kleinen Weg, auf dem wir spazierten, Deine Großtante Hildegard ermordet worden war. Gleich hinterm Kesselberg. Mein Vater hat sie dort gefunden und durch den tiefen Schnee nach Hause getragen.
Pastor Meirich hatte uns angeboten, uns mit seiner Kutsche dorthin zu fahren. So sehr ich mich an den Gedanken gewöhnt hatte, nie wieder auf unseren Hof in Mietgendorf zurückzukehren, so groß war meine Angst, als wir auf der Kutsche saßen und auf dem Weg dorthin waren. Es war ein schwülwarmer Tag, mit tiefhängenden, drohenden Wolken. Während der Fahrt war es, als würden wir aus einem Gefängnis ausbrechen und fliehen, ohne zu wissen, wohin wir gehen konnten oder wo wir uns verstecken sollten. Alles schien unverändert zu sein, mit der Ausnahme, dass wir überall russische Soldaten sahen und einige Höfe unter Zerstörungen gelitten hatten.
Pastor Meirich hielt etwa einen halben Kilometer vor unserem Grundstück. Opa hatte ihn darum gebeten. Das letzte Stück legten wir zu Fuß zurück, den kleinen Feldweg durch die Birkenallee hindurch. Er war sehr viel ausgefahrener, als ich es in Erinnerung hatte. Später haben sie ihn dann einmal planiert und viele der Birken gefällt, in den sechziger Jahren.
Auf dem Weg zum Hof hielt ich mich bei Opa fest. So fest ich nur konnte. Ich zitterte, und er zitterte auch. Es regnete leicht, als wir um die Dornenbuschecke bogen und unser Hof dann plötzlich vor uns lag. Niemand war zu sehen, es war ganz still. Wir standen lange dort, in sicherer Entfernung zum Eingangstor, welches dasselbe war, durch das wir unseren Hof zweieinhalb Jahre zuvor verlassen hatten. Ich konnte nichts als weinen, vor Angst, vor Trauer.
Aber Opa zog mich vorwärts. Ich wollte nicht, aber er zog mich mit sich. Er ging näher heran, bis wir fast direkt vorm Eingangstor standen. Es war ganz still, für eine ganze Weile. Ganz leise wehte der Wind, ganz schwach. Ich weiß es noch wie heute. Und dann hörten wir, wie sich die kleine Holztür zur Kammer öffnete, in der wir immer alle Vorräte und Einweckgläser aufbewahrt hatten. Erst sah er uns nicht, stieg ganz entspannt die kleine Treppe zur Diele hoch, unter dem Arm trug er etwas. Aber plötzlich bemerkte er uns. Es wurde langsam dunkel, und erst war ich nicht sicher, ob er wirklich wusste, welche Besucher dort vor seinem Tor standen. Aber Carl-Rudolf Hermann erkannte uns sofort. Er blieb stehen und musterte uns mit zusammengekniffen Augen. Er hatte noch immer den Habitus einen nationalsozialistischen Stadtoberhauptes, so wie er dort auf der Treppe stand. Das einzige, was fehlte, war eine Uniform.
Ich hatte das Gefühl, einen Pistolenlauf im Nacken zu spüren, als ich die kalten Augen dieses fetten, kahlköpfigen Mannes auf uns spürte. Opa wich keinen Schritt zurück, sagte nichts. Er sah ihn an, unbeirrt. Hermann aber stieg die Treppe langsam weiter herauf, ohne die Augen von uns zu nehmen. Als er die Tür erreicht hatte, die an der Mauer-Außenseite zur kleinen Diele führte, hielt er an, spuckte in unsere Richtung aus und griff kräftig und demonstrativ den Türgriff, öffnete die Tür, verschwand darin und schlug die Holztür krachend hinter sich zu. Und dann, dann war es wieder still. Totenstill.
Es dauerte lange, bis wir uns einig darüber waren, was wir tun wollten und wie wir mit alldem umzugehen gedachten. Fast dreieinhalb Jahre lebten wir in einer kleinen Holzhütte auf dem Grundstück von Pastor Heinrich. Dreieinhalb Jahre. Wir wussten nicht, wohin. Es gab nichts, außer Elend. Und Hunger. Und endlose Diskussionen – manchmal auch mit Heinrich. Wir diskutierten die Möglichkeiten, die wir hatten. Aber es war eine Zeit, in der sich vor allem die sowjetischen Besatzer einen feuchten Kericht darum scherten, welche Besitzansprüche es unter der besetzten Bevölkerung gab, und schon gar nicht interessierten sie sich für Juden. Wenn man geglaubt hatte, mit den Russen besser dran zu sein, kam die Ernüchterung sehr schnell.
Wir entschieden, dort zu bleiben. 1949 fand Opa wieder Arbeit in einem der landwirtschaftlichen Betriebe in Trebbin, bei Wilhelm Thielicke, den er noch aus der gemeinsamen Schulzeit in Luckau kannte. Durch ihn sind wir dann auch an unsere erste eigene Bleibe in Trebbin gekommen, ein abgerissenes Stallhäuschen gleich am Bohldamm, welches wir dann in den folgenden Jahren wieder aufgebaut haben. Du kennst es. Heute ist es der Schuppen hinten im Garten, neben den Garagen. Es war unser erstes eigenes Haus im neuen Leben. Opa hasste es, immer.
Es ging dann nur sehr langsam wieder aufwärts. Ich hatte lange das Gefühl, isoliert zu sein. Was häufig aber auch an uns selbst lag. Aber durch die Flüchtlinge, die aus dem Osten kamen und überall in der Gegend Zuflucht gefunden hatten, wurde es mehr und mehr zu einer ganz neuen, veränderten Gesellschaft. Und das Gefühl, ein Fremder in der eigenen Heimat zu sein, relativierte sich immer dann, wenn man die furchtbaren Schicksale vieler Vertriebener kennenlernte.
Ich weiß nicht mehr genau, wann wir damit anfingen, aber ich glaube, es war so gegen 1950 oder 1951, als wir am Todestag von Hildegard hinaus zum Kesselberg fuhren, um ein paar Blumen niederzulegen an der Stelle, wo sie damals tot aufgefunden worden war. Und ich weiß noch, dass wir manchmal auf unserem Spaziergang auch am Hof vorbeigingen und aufs Grundstück und die von innen erleuchteten Fenster schauten. Meist weinte ich, aber es war ein bisschen auch wie Zuhause sein. So ging es einige Jahre. Immer im Winter, meistens im Schnee. Damals schneite es noch viel häufiger als heutzutage.
Der Brief lag – das weiß ich sehr genau – kurz nach Weihnachten 1960 unter unserer Türspalte. Ich saß am Tisch in der Küche, als Opa hereinkam und ihn mir überreichte. Bis heute kann ich nicht beschreiben, wie viel Wut und Verzweiflung in seiner Miene lag, als er mir den Zettel mit zitternder Hand überreichte. Ein ganz kleiner, unscheinbarer Zettel nur, eigentlich kein wirklicher Brief. Du weißt ja, wie er aussieht. So, wie er damals unter unserer Tür lag, habe ich ihn bis heute aufgehoben.
Winter 1960 war das letzte Mal, dass wir dort waren, für lange, lange Zeit. Wir wussten, dass es sinnlos war, mit dieser Drohschrift zur Polizei oder zu irgendjemand anderem zu gehen. Auch Herrn Meirich haben wir nicht davon erzählt. Ich habe den Zettel behalten, aber aus heutiger Sicht denke ich, ich hätte ihn in dem Moment, als Opa in mir gegeben hat, in den Ofen werfen und verbrennen sollen. Gerade in den letzten Monaten habe ich das immer wieder gedacht. Wozu habe ich ihn aufgehoben. Wozu?
Nun gut. Als Hermann 1978 an einer Lungenentzündung starb, entspannte sich vieles. Wir fingen wieder an, zum Kesselberg zu fahren, wenn es die Zeit zuließ. Mit Deiner Mutter waren wir oft da. Wir legten Blumen ab. Zum Hof gingen wir aber nur ganz selten. Wir hatten niemals ein Wort mit Familie Hermann gesprochen, aber die Blicke, mit denen sie uns von der anderen Seite des Zauns begegneten, waren vielsagend. Sie wussten sehr genau, wer wir waren.
Opa sprach von irgendeinem Zeitpunkt an oft davon, dass er von Organisationen gelesen hatte, die im Westen gegen die Enteignung von Juden während der Zeit des Nationalsozialismus vorgingen. Und das sogar erfolgreich. Er fing damit an, ich glaube es war nicht lange nach Hermanns Tod. Es war wie ein Signal für ihn, und ich spürte, wie Hoffnung in ihm keimte. Ich hatte das Gefühl, dass die Verbitterung, die er in sich trug, mit jedem Tag und jedem Jahr größer wurde. An manchen Tagen oder Abenden kannte er kein anderes Thema. Manchmal zog er sich plötzlich seine Jacke an und sagte „Ich fahre zum Friedhof. Blumen für das Grab von Pastor Heinrich. Und ein bisschen Pisse für das von Hermann“.
Er hat das nie in die Tat umgesetzt, das weiß ich. Er kam immer sehr niedergeschlagen zurück. Das einzige, was er immer wieder, bis zu seinem Tod, wiederholte, war, einen Stein auf Hermanns Grabstein zu legen. Ich glaube, um der Familie zu zeigen – wir sind noch da, und wir haben es nicht vergessen. Wiegt Euch nicht in Sicherheit. Das war die einzige Waffe, die er hatte. Einen weiteren Brief hat es aber nie wieder gegeben.
Die Wende kam zu spät für ihn. Und weißt Du Hanna, in gewisser Weise bin ich froh, dass ich ihn nicht mehr davon abhalten musste, den Hof zurückgewinnen zu wollen. Was hätte das schon gebracht. Hass und Zorn wären von neuem ausgebrochen, und wieder wäre eine Familie aus ihrer Heimat vertrieben worden. Denn das war es für sie nun einmal geworden. Eine Heimat. Was konnten die Kinder und Enkel dafür, was ihre Eltern und Großeltern vor Jahrzehnten einmal getan hatten?
Und wir? Wir wären nur von neuem isoliert gewesen und angefeindet worden, wenn wir auf unser Recht bestanden hätten, da bin ich ganz sicher. Es hätte nichts besser gemacht. Ganz im Gegenteil.
Meine liebe Hanna. Dies ist auch der Grund, warum ich Dir niemals erzählen wollte, wo unser Hof einst gelegen hat. Als Deine Mutter und später noch Dein Onkel geboren wurden, habe ich mit diesem Kapitel abgeschlossen. Ganz anders als Dein Großvater, leider. Wenn wir am Kesselberg spazierten und mit Deinen Eltern oder später auch mit Dir spielten, dann habe ich es als einen Ausflug in eine frühere Heimat empfunden, auch wenn das Grundstück, auf das wir von dort aus immer sehen konnten, nicht mehr unseres war. Aber Dein Großvater stand immer nur dort und blickte unaufhörlich über den Holzzaun in den Hof, voller Zorn, voller Verbitterung.
Diese Verbitterung Hanna, dieser Zorn, das muss alles irgendwann einmal enden. Ich will nicht, dass Dinge, die vor über sechzig Jahren passiert sind, noch heute Einfluss auf Familien und Freunde haben, die mit alledem nichts zu tun hatten und auch nicht haben sollten. Was geschehen ist, ist geschehen.
Ich weiß natürlich, wie schwierig das für Dich jetzt ist. Ich weiß, dass Du schon oft dort warst, vor allem auf den Geburtstagen von Annegret und ihrem Bruder, den Du nicht sonderlich gut leiden kannst. Mir war immer bewusst, dass Du das nicht einfach so hättest hinnehmen können. Aber Hanna, meine liebe Hanna – ich bitte Dich mit diesem Brief so innig, wie es nur irgend möglich ist: lass es ruhen. Bitte, Hanna, lass es einfach so, wie es ist. Kein Zorn mehr, keine Verbitterung. Es muss irgendwann enden, damit Neues erwachsen kann. Aus Hass wächst nur neuer Hass. Also bitte ich Dich – hasse nicht, Hanna.
Ich bin sehr müde. Gütiger, ich will gar nicht wissen, wie spät es ist. Ich hoffe aber, dass ich Dir mit diesem Brief die Gewissheit geben konnte, nach der Du gesucht hast. Aber vielmehr hoffe ich, meine geliebte Hanna, dass Du mir beim nächsten Besuch in Trebbin einfach eine große, lange Umarmung schenkst, um das, was gewesen ist, vergessen zu machen. Lass uns den ganzen Kram hinter uns lassen, ich bitte Dich darum, nur darum. Mehr will ich nicht.
Ich hoffe, wir sehen uns bald, vielleicht kommst Du ja einfach am nächsten Wochenende mal runter, für ein paar Stunden nur? Und grüß‘ mir Opa, wenn Du vorbeikommst. Ich werde wohl erst wieder in drei Wochen hochfahren können.
In Liebe, Oma
Die ersten fünf Teile der Geschichte findet Ihr auf der Seite „STORY“
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