Ein Blick in die Zukunft urbaner Räume: Was Stadtstraßen von gestern und morgen zu lebenswerten Orten macht, diskutierten Experten in der vergangenen Woche im Rahmen einer AIV-Veranstaltung in der Staatsbibliothek Unter den Linden.
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Text: Wolfgang Leffler
Der AIV hatte in der vergangenen Woche zu einer weiteren Veranstaltung in diesem Jahr zur Ausstellungs- und Veranstaltungsreihe „immer modern!“ in die Staatsbibliothek Unter den Linden geladen. Eine Veranstaltung quasi zur parallel in der Straße Unter den Linden bis zum 30. November gezeigten Freiluftausstellung.
Auftakt: Wiederentdeckung des menschlichen Maßstabs
Gestartet war der AIV mit diesem Thema zur Wiederentdeckung des menschlichen Maßstabs bei der Stadt- und speziell Straßengestaltung in den Großstädten mit einem zweitägigen Symposium am 5. und 6. September 2024 im Kronprinzenpalais auf der gegenüberliegenden Seite der Straße Unter den Linden. Moderator Rudolf Spindler vom AIV zitierte gleich zu Beginn seiner Willkommensgrüße Jane Jacobs, eine US-amerikanische Sachbuchautorin sowie Stadt- und Architekturkritikerin, die in den 1950er und Anfang der 60er Jahre im New Yorker Stadtteil Greenwich Village lebte.
In ihrem Hauptwerk „The Death and Life of Great American Cities“ wandte sie sich gegen die vorherrschende Stadtplanung jener Zeit. In dieser Streitschrift protestierte sie gegen den Verlust gewachsener städtischer Strukturen mit ihren urbanen Mischungen und verschiedenen Nutzungen: „The trust of a city street is formed over time from many, many little public sidewalk contacts…. most of it is ostensibly trivial, but the sum is not trivial at all.“ Mit diesem Zitat von Jane Jacobs, die übrigens auch eine Gegnerin der „autogerechten Stadt“ war, leitete Rudolf Spindler das beherrschende Thema des Abends ein.
Herausforderungen der Verkehrswende und des Klimaschutzes
In den nachfolgenden sechs Vorträgen ging es um die drängenden Herausforderungen der Verkehrswende und des Klimaschutzes sowie die notwendigen verkehrlichen und städteplanerischen Maßnahmen. Dabei standen die zur Umsetzung erforderlichen Um- und Neuverteilungen der Verkehrsflächen sowie freiräumliche Projekte im Mittelpunkt der baulichen Maßnahmen.
Themen wie bauliche Anlagen der Straßen und ihrer Raumgestaltung durch Hausfassaden, Material, Farbe oder Straßenbäume bildeten den Schwerpunkt der Reden und anschließenden Diskussionen.
Straßen als öffentliche Räume: Historische und aktuelle Perspektiven
Als erster Redner dozierte Prof. Dr. Wolfgang Sonne, Lehrstuhlinhaber für Geschichte und Theorie der Architektur an der TU Dortmund, zum Thema „Stadtstraßen sind unsere wichtigsten öffentlichen Räume“. Er zeigte eine umfassende rationale Typisierung von Straßen und der darin stattfindenden Tätigkeiten sowie eine weit zurückreichende geschichtliche Betrachtung von Pompeji im ersten Jahrhundert nach Christus, über Siena im Mittelalter, Rom und Paris im 17./18. Jahrhundert bis hin zu London Anfang des 19. Jahrhunderts.
Das Fazit seines Vortrags endete mit einem Bild derzeitiger Stadtautobahnen im Westen der Republik, die er als „schlimm“ charakterisierte, und seiner Hoffnung, dass so die „Stadt der Zukunft“ nicht aussehen möge.
Regelwerke für die künftige Straßenraumgestaltung
Der zweite Vortragende war Manfred Kühne, Abteilungsleiter Städtebau und Projekte der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, der zum Thema „Regelwerk Straßenraumgestaltung“ sprach. Dieses Regelwerk existiert momentan nur für den Stadtbezirk Mitte und könnte Vorbild und Rahmenrichtlinie auch für andere Stadtbezirke Berlins werden.
Auch er eröffnete seinen Vortrag mit einem Zitat, diesmal von Rainald Manthe, Soziologe und Buchautor, aus dem Jahr 2024 unter der Überschrift „Demokratie braucht Begegnungsräume im Alltag“: „Was Republiken auszeichnet, ist das beständige, lustvolle Reden aller mit allen. Doch in den Demokratien der Gegenwart fehlen Begegnungsräume im Alltag, in denen die Vielfalt moderner Gesellschaften erlebbar wird. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
Historische Entwicklungen und städtebauliche Leitbilder
Manfred Kühne ging weit zurück in die Berliner Geschichte und begann mit der im Jahr 1415 beginnenden und 1918 endenden Hohenzollerndynastie, die sich natürlich im Berliner Stadtbild niederschlägt. Die Gründung Groß-Berlins 1920 war jedoch der entscheidende Schritt für die Entwicklung Berlins zur Metropole.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam ein radikaler Leitbildwechsel mit der Nachkriegsmoderne und kritischen Rekonstruktionen. Die Neugestaltung des Kurfürstendamms in seiner heutigen Form geht auf eine Kabinettsordnung Otto von Bismarcks zurück. Weitere Regelwerke prägten den Kurfürstendamm, wie etwa das lineare Regelwerk von 1988, das noch heute sichtbar ist.
Berliner Straßenraumgestaltung im Kontext der Klimaanpassung
Beim Potsdamer Platz wiederum rangen Berliner Institutionen mit Investoren, um Straßen Berliner Flair zu verleihen. Doch die Ergebnisse blieben hinter den Erwartungen zurück. Ein weiteres Beispiel bot die Friedrich- und Dorotheenstadt mit ihren linearen Straßengestaltungen, die inzwischen wieder verstärkt auf Klimaanpassung setzen, um Aufenthaltsqualität zu steigern.
Zum Abschluss erhielt Manfred Kühne großen Beifall für seinen Ausblick auf ein aktuelles Regelwerk für Berlins Mitte, das Blau-Grün-Infrastrukturen und mehr Aufenthaltsqualität vereint.
Materialien und Straßenbeläge: Herausforderungen und Lösungen
Christiane Krause, Referatsleiterin Straßenraumgestaltung bei der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt, beleuchtete das Thema „Natursteinmaterial im Berliner Straßenbau“. Sie wies auf Herausforderungen bei der Belastbarkeit von Straßenbelägen hin, insbesondere im Kontext der Verkehrswende.
Ein weiteres zentrales Thema war die Klimaanpassung, wie am Beispiel der Neugestaltung des Gendarmenmarkts deutlich wurde, wo unterhalb des Straßenpflasters innovative Wassermanagementsysteme installiert wurden. Die Veranstaltung bot einen umfassenden Einblick in die Gestaltung von Stadtstraßen als lebenswerte Räume unter den Anforderungen von Klimawandel, Verkehrswende und historischer Identität. Zahlreiche Ansätze, von Regelwerken bis hin zu Best-Practice-Beispielen, wurden beleuchtet und lösten angeregte Diskussionen aus.
Quellen: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, TU Dortmund, AIV, Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt