Mitten in der Debatte um Berlins autogerechte Stadtpolitik fordert der Architekten- und Ingenieurverein Berlin (AIV) einen Paradigmenwechsel hin zu einer modernen und menschenfreundlichen Stadtplanung. Eine Serie von Ausstellungen und Veranstaltungen stellt visionäre Entwürfe für die Straßen von morgen vor und lädt zur öffentlichen Diskussion ein.
© Visualisierung Titelbild: Zukünftige Vision für die Möllendorffstraße in Lichtenberg von TCHOBAN VOSS Architekten GmbH + ST raum a. GmbH
Text: Björn Leffler
Vielleicht wusste Berlins Regierender Bürgermeister, Kai Wegner (CDU), dass er bei der heutigen Auftaktveranstaltung des AIV, der anlässlich seines 200. Geburtstag Berlins große Straßen in den Fokus rückt, nur wenig gewinnen konnte.
Denn der schwarzrote Senat hat während seiner bisherigen Amtszeit vor allem damit geglänzt, nachhaltig orientierte Infrastrukturprojekte zu stoppen oder stark einzudampfen – und tendenziell eher autogerecht orientierte Verkehrsolitik zu machen.
Die Verkehrspolitik von CDU und SPD war bislang wenig innovativ
Beispiele dafür gibt es viele. Ob dies die Öffnung der Friedrichstraße für den Autoverkehr betrifft, die Einstellung fast aller großen Radwegprojekte, das Vorantreiben großer Straßenprojekte wie den umstrittenen Weiterbau der A100 durch das dicht besiedelte Friedrichshain oder das Infragestellen von eigentlich längst beschlossenen Verkehrsprojekten wie dem Bau der Tramlinie vom Alexanderplatz zum Potsdamer Platz.
Und so ließ sich Kai Wegner am Donnerstagmorgen während der Auftakt-Pressekonferenz von seinem Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler (SPD) vertreten, aber auch Berlins neue Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) blieb der Veranstaltung fern.
Der AIV widmet sich einem großen und relevanten Thema: Berlins Straßen
Dabei hat sich der AIV zu seinem Jubiläum ein großes und über alle Maßen relevantes Thema ausgesucht, welches in Ausstellungen, Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen die Stadtgesellschaft bis Ende November begleiten und aktivieren soll.
Denn, so betonte es Pressesprecherin Martina Rozok zum Auftakt der Pressekonferenz, alle Veranstaltungen werden kostenlos und für jedermann zugänglich sein, genauso wie die prominent platzierte Freiluftausstellung, die seit heute auf dem Boulevard Unter den Linden zu sehen ist.
Viele Architekten- und Planungsteams haben an der Ausstellung “immer modern!” mitgearbeitet
In die Vorbereitung und Umsetzung des Veranstaltungsmarathons, der bereits heute Nachmittag mit einer Veranstaltung zum Thema „Große Straßen von heute: wie der Umbau gelingen kann” beginnen wird, ist sehr viel Arbeit geflossen, mehrere Stadtplanungs- und Architekturbüros haben viel Material über Geschichte und Gegenwart der Berliner Straßen zusammengetragen.
Mehrfach wurde im Rahmen der Pressekonferenz der Auftrag an die Berliner Senatsverwaltung formuliert, das „Ungetüm“ der autogerechten Stadt, deren Planung bereits Ende der 1920er Jahre mit zum Teil haarsträubenden Entwürfen begann und letztlich ab den 1950er Jahren umgesetzt wurde, endlich in eine zukunftsorientierte, moderne Stadtlandschaft umzubauen. Dabei wurde auch auf die weiterhin notwendige Verwaltungsreform der Berliner Behörden hingewiesen.
Die autogerechte Stadtplanung hat in Berlin gravierende Spuren hinterlassen
Dass das Auto das Zentrum der Stadtplanung von den 1920er Jahren bis hinein in die 1970er Jahre war, hat vor allem in Berlin, in der vom Zweiten Weltkrieg so stark zerstörten Stadt, gravierende Spuren hinterlassen und – sowohl in Ost- als auch in West-Berlin – viele historische Spuren und Quartiere unter zum Teil gigantischen Verkehrsschneisen verschwinden lassen.
Der AIV, dessen Vorsitzender Tobias Nöfer gemeinsam mit Robert Patzschke bereits vor Jahren eine Umgestaltung des Breitenbachplatzes in Dahlem gefordert und letztlich mit angestoßen hatte (samt Abriss der noch immer bestehenden Autobahnbrücke), schaut natürlich auch in die Zukunft der Berliner Straßen und generell der urbanen Stadtraumplanung.
Zehn Zukunftsvisionen für zehn Berliner Straßen
Dafür haben zehn namhafte Büros Visionen für zehn Berliner Straßen entworfen, die aufzeigen, wie der Straßenraum von morgen aussehen könnte. Bewusst sind hierbei aber prominente Verkehrsachsen wie Kurfürstendamm, Friedrichstraße oder Unter den Linden außen vor gelassen worden.
Ziel war es vielmehr, Straßen zu wählen, die von den Berlinerinnen und Berlinern im Alltag genutzt werden und Teil ihres regelmäßigen Lebens sind. So gibt es mitunter spektakuläre Ideen für die Umgestaltung der Holzmarktstraße in Mitte, der Möllendorffstraße in Lichtenberg, des Köpenicker Schlossplates, des Altstädter Rings in Spandau oder der Lindenstraße in Kreuzberg.
Einige Entwürfe muten utopisch an, andere sind nicht weit weg von der heutigen Stadtplanung
Viele dieser Entwürfe muten geradezu utopisch an, wenn man sich den heutigen Status Quo der Straßen ansieht. Architekt Christoph Langhof etwa stellt sich ein begrüntes Hochhausquartier entlang der Holzmarktstraße vor, das Büro Graft verwandelt die Mollstraße kurzerhand in eine Flusslandschaft.
Doch es gibt auch weniger aufregende Konzepte, wie etwa der von gmp Architekten, der aus der Lietzenburger Straße in Schöneberg eine verkehrsberuhigte Stadtlandschaft macht, die Platz für Fußgänger, Radfahrer und E-Mobilität schafft – und vor allem neuen Wohnraum.
Der Bau der autogerechten Stadt hat viel Fläche gekostet – der heute für den Wohnungsbau fehlt
Denn, auch dies klang am Donnerstag mehrfach an, der Umbau zur autogerechten Stadt hat enorme Flächen unnutzbar gemacht, die heute für den Bau der dringend benötigten Wohnungen verwendet und neu gestaltet werden könnten.
Wie gravierend die Auswirkungen der autogerechten Stadt auf das Stadtbild und die darin lebenden Menschen war und bis heute ist, zeigt das Beispiel des heute namenlosen Stadtplatzes zwischen Schloßstraße und Wolfensteindamm, der riesige Flächen verbraucht – und letztlich nicht mehr ist als eine überdimensionierte Autobahnauffahrt am Fuße des Steglitzer Kreisels.
Aus überdimensionierten Straßen können urbane Stadtplätze gemacht werden
Die Teams von Bernd Albers Architekten, ENS Architekten sowie die Fachhochschule Potsdam zeigen in ihrem Entwurf, wie der Platz in ein urbanes, belebtes Zentrum umgewandelt werden könnte, der sehr viel mehr ist als eine laute und unbewohnbare Verkehrsschneise – wenn der politische Wille dafür vorhanden ist.
Gastgeber Tobias Nöfer sagte zur Eröffnung der nun folgenden Veranstaltungsreihe sehr passend: „Straßen sind – unabhängig von ihrer Schönheit oder Hässlichkeit – immer Lebensraum für alle Teile der Gesellschaft. Niemand kann sich ihnen entziehen. Straßen sind immer das Ergebnis von Planung und – das mag vielen erstaunlich erscheinen – sie sind dennoch oft Schauplatz von Chaos und Dysfunktion. Es lohnt sich also aus Anlass unseres Geburtstages über das Phänomen Straße, ihre Herkunft, ihren Zustand und ihre Chancen öffentlich nachzudenken.“
Den Auftakt der Initiative bildet am heutigen Donnerstag das oben bereits erwähnte Symposium zum Thema „Große Straßen von heute: wie der Umbau gelingen kann” im Kronprinzenpalais. Zudem wird „immer modern!” am Abend mit einem großen, öffentlichen Fest im Garten des Kronprinzenpalais offiziell eröffnet.
Anmerkung der Redaktion: Auf ENTWICKLUNGSSTATD BERLIN werden wir das Thema in den kommenden Monaten mit großem Interesse verfolgen und die zehn Konzepte jeweils einzeln im Detail vorstellen.
Weitere Bilder zum Thema findet Ihr hier:
Quellen: Architekten- und Ingenieurvereins zu Berlin-Brandenburg, HILMER SATTLER ARCHITEKTEN, Ahlers Albrecht Gesellschaft von Architekten mbH, TCHOBAN VOSS Architekten GmbH, ST raum a. GmbH, LANGHOF®, GRAFT, Jan Kleihues, Kleihues & Kleihues, Heike Hanada, hh_laboratory of art and architecture, gmp · Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Bernd Albers Architekten, ENS Architekten, Fachhochschule Potsdam, Patzschke Planungsgesellschaft mbH, Axthelm Rolvien Architekten, MÄCKLER ARCHITEKTEN, HKK Landschaftsarchitektur, ARGUS Stadt und Verkehr
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