Briefe aus T.

Teil 3 – Jüdisch

11. Oktober 2005

Hi Hanna,

Du wunderst Dich wahrscheinlich, warum ich Dir jetzt nochmal maile, Du bist grad’ mal eine Stunde weg. Ich fand es übrigens sehr schön heute, aber ich glaube, das brauche ich Dir nicht nochmal schriftlich zu geben. Wir hatten auch echt Glück mit dem Wetter und ich fand’s auch sehr angenehm, den Marktplatz so leer und nebelig zu erleben, das hatte echt was ganz eigenes.

Ich wollte aber eigentlich die ganze Zeit was ganz anderes ansprechen, aber so richtig weiß ich nicht, wie ich’s anstellen soll. Und persönlich hab’ ich mich nicht getraut. Ich versuch’s jetzt einfach schriftlich, und wenn Du findest, dass ich feige bin, dann antworte einfach nicht drauf und erwähn’ es einfach nicht mehr.

Seit Du mich vor vier Wochen mit zum jüdischen Friedhof genommen hast, weiß ich überhaupt erst, dass Du, also, ich sag mal jüdischer Abstammung bist. Das war mir natürlich nie bewusst, das Thema war für ich immer ein fernes, theoretisches Geschichtsding, mehr nicht. Also… entschuldige, wenn das hier alles extrem unbeholfen klingt, aber ich versuche so ehrlich und respektvoll wie möglich zu sein. Und ich find’s ja selber scheiße, dass ich nicht den Mut hatte, Dich direkt zu fragen, aber wenn Du mich ansiehst, dann habe ich meist ganz andere Dinge im Kopf, als so schwierige Themen zu beginnen.

Okay, na gut ich weiß nicht, wie kann ich es sagen? Darf ich sagen, dass Du Jüdin bist? Oder würdest Du Dich selbst gar nicht als solche bezeichnen? Ich bin so unsicher. Seit ich weiß, dass diese Hildegard Bernheimer Deine Großtante war, sehe ich plötzlich alles in einem anderen Licht – obwohl ich das gar nicht will! Das meine ich ganz ernst.

Aber wenn ich jetzt Deinen Eltern oder Deiner Großmutter auf der Straße begegne, dann bin ich völlig unsicher und befangen. Ich weiß auch nicht. Irgendwie hätte ich nie gedacht, dass… Gott, wie soll ich das sagen… na ja irgendwie dachte ich, dass die, die den Holocaust überlebt haben, bestimmt nicht einfach so weiter ihr altes Leben in ihren alten Dörfern oder ihrer alten Heimat weitergelebt haben. Auch wenn man weiß, dass nicht alle Juden Deutschland nach dem Krieg verlassen haben.

Ich habe im Moment einfach nur Angst, Fehler zu machen, was Falsches zu sagen, irgendwas respektloses oder verletzendes, ohne dass ich es merke. Also, nicht nur Dir gegenüber, auch wenn ich einfach nur bei Deinen Eltern zu Gast bin.

Ich hoffe, Du hast keinen Stress bekommen, weil Mario uns zusammen zu Dir nach Hause hat laufen sehen. Er sah wenig begeistert aus, als er aus dem Auto gestiegen ist, und gegrüßt hat er mich auch nicht. Na gut, da will ich mich nicht einmischen. Ich hoffe nur, da ist alles in Ordnung.

Also gut… soviel von mir… ich find jetzt auch keinen passenden Schluss mehr. Schlaf gut, wir sehen uns. Robert

 

11. Oktober 2005

Hallo Robert,

ich bin noch wach. Mario ist nach Hause gefahren, er wollte noch was für morgen fertigschreiben. Er war nicht sonderlich gut drauf, das hatte aber nichts mit Dir zu tun, mach Dir keine Gedanken. Ich hab ihm schon vor ner ganzen Weile gesagt, dass wir nur befreundet sind, damit kann er eigentlich auch ganz gut leben, glaube ich. Er erwähnt Dich jedenfalls fast nie.

Eigentlich wollte ich die E-Mail mit „Du bist wirklich ein Feigling“ beginnen. Wir haben ungefähr sechs Stunden über Gott und die Welt gesprochen und das Wichtigste kommt dann als Nachtrag in schriftlicher Form. Ich weiß, dass es immer etwas anderes ist, etwas zu schreiben, als es jemandem persönlich zu sagen. Aber beim nächsten Mal – frag mich einfach. Dann muss ich nicht so viel schreiben! 

Aber wie gesagt, ich wollte diese E-Mail so beginnen, hab es aber nicht getan. Als ich darüber nachgedacht habe, da hab ich dann doch gemerkt, dass es für Dich vermutlich wirklich keine so einfache Sache ist.

Na gut, wie soll ich anfangen. Ja, meine Großeltern waren beide jüdisch, meine Mutter ist es also auch, mein Vater aber hat nichts mit dem Judentum zu tun gehabt. Ich bin also halbjüdisch, und wenn Du mich Jüdin nennst, klingt das schon irgendwie komisch. Ich fühle mich eigentlich nicht bewusst als Jüdin, wir haben zu Hause auch keine jüdischen Bräuche oder sowas. Ich habe selbst erst sehr spät von meiner Mutter erfahren, was meine Großeltern durchgemacht haben. Also irgendwie hat man immer schon mal so ein paar Andeutungen auf Familienfeiern mitbekommen, aber als Kind habe ich es entweder nicht wirklich wahrgenommen oder nicht verstanden. Als ich, ich glaube, 13 oder 14 Jahre alt war, hat mir meine Mutter dann mal die ganze Geschichte erzählt.

Nach dem, was ich noch weiß, war es wohl so: Nachdem Hildegard im Winter 1938 tot im Schnee gefunden worden war, war das natürlich wie ein Signal. Bis dahin hatte die Familie immer noch darauf gehofft, als angesehene Bürger innerhalb der Stadt einen gewissen Schutz zu genießen, einen gewissen Respekt. Aber sie merkten dann plötzlich, wie die Leute um sie herum immer zurückhaltender und mitunter offen  feindseliger wurden.

Nach der Beerdigung von Hildegard hat die ganze Familie während der Schiwa, die sieben Tage dauerte, besprochen, wie es nun weitergehen soll. Meine Mutter hat es so dargestellt, dass es offensichtlich zwei Parteien im Haus gab. Eine war dafür, in Trebbin zu bleiben und sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, bis die Nationalsozialisten ihre Vormachtstellung wieder verlieren würden. Meine Großeltern, damals noch nicht mal verheiratet, wollten nicht aus Trebbin weg. Sie wollten den Hof nicht verlassen. Der Bruder meiner Großmutter, der mit auf dem Hof wohnte, und die Eltern meiner Großmutter, denen der Hof eigentlich gehörte, wollten Trebbin verlassen und versuchen, sich in Berlin oder Dresden durchzuschlagen. Sich im Untergrund verstecken, oder sowas.

Ich weiß natürlich nicht, wie das ganze damals abgelaufen ist, auch meine Mutter kennt es ja nur aus der Erzählung meiner Großmutter. Ich weiß, dass während der Shiwa alle Familienmitglieder das Haus für sieben Tage nicht verlassen dürfen, und so hatten sie viel Zeit, darüber zu diskutieren, wie es weitergehen soll. Sie konnten sich aber nicht einigen.  Ich glaube, ungefähr ein halbes Jahr später oder so, ich weiß es nicht genau, haben die Eltern und der Bruder meiner Oma den Hof dann verlassen, um nach Berlin zu gehen. Meine Großeltern blieben, um das Grundstück nicht allein zu lassen. Das muss alles ziemlich furchtbar gewesen sein.

Meine Mutter hat wohl noch die Briefe, die sie sich – auf welchem Wege auch immer – gegenseitig geschrieben haben. Aber lange dauerte der Kontakt nicht, es sind auch nur drei oder vier Briefe, soweit ich weiß. Der letzte ist vom Februar 1940. Danach haben meine Großeltern nie wieder einen Brief bekommen, und in Trebbin wurde es immer schlimmer. Ich weiß es gar nicht genau, ich glaube, es war Ende 1941, da haben sie in Priedel das Haus einer jüdischen Familie angezündet, es ist komplett abgebrannt. Ob von denen noch jemand zu Tode gekommen ist, weiß ich nicht.

Jedenfalls waren meine Großeltern wohl ziemlich erschüttert und wussten nicht, was sie tun sollten. Nach Berlin wollten sie aber auf keinen Fall, da sie Angst hatten, dort noch viel leichter der Gestapo in die Hände zu fallen. Also sind sie in in der Gegend um Trebbin geblieben, aber sie haben den Hof verlassen. Ich weiß nicht, wie es zum ersten Kontakt gekommen ist, aber ein evangelischer Pastor aus Thyrow hat sie versteckt. Sie haben bis zum Sommer 1945 in der Dorfkirche in Thyrow gelebt. Meine Mutter meinte, sie waren im westlichen Dachturm untergebracht und sind nur nachts nach draußen gegangen, aber auch das nur mit äußerster Vorsicht. Ich kenne den Namen des Pastors nicht, er muss wirklich viel auf sich genommen haben, um die beiden dort zu verstecken, in den Wintern wären sie aber trotzdem fast erfroren.

Tja, das war jetzt wirklich die ziemlich ausführliche Fassung des Ganzen. Sie sind erst nach Ende des Krieges wieder zu ihrem Hof zurück gegangen. Aber nicht sofort. Erst im September ’45 haben sie ihr Versteck im Dachturm vollständig verlassen, um nach Trebbin zurückzukehren.

Als sie zurück zum Hof kamen, wohnten andere Leute darin. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie nie wieder einen Fuß auf das Grundstück gesetzt haben. Wie es genau war, weiß ich nicht. Ich weiß noch nicht mal, wo sich dieser Hof befunden hat, ob Du’s glaubst oder nicht. Sie haben mir nie gesagt, wo sich dieses Grundstück befindet. Und wenn meine Oma überhaupt über diese Zeit spricht, dann ist das letzte, was man tun sollte, nachzubohren. Sie würde es nicht erzählen. Ich glaube, sie hat irgendwann begonnen, diese Zeit hinter sich zu lassen. Und dabei belässt sie es.

Und nun bin ich auch müde genug, mir selbst nicht mehr so viele Gedanken darüber zu machen. Ich geh jetzt schlafen, ich hab grad mal noch sechs Stunden Schlaf vor mir, ich werd morgen wieder unausstehlich sein.

Bis bald Robert, ich hoffe, Du hast ein bisschen Ruhe gefunden.

Hanna.

Den ersten und zweiten Teil der Geschichte findet Ihr auf der Seite “STORY”

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