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Jede Zeit baut ihre Stadt.

Eine Geschichte vom Mehringplatz Teil 3 – Das Haus

ILLUSTRATION: LUCIA BONTJER
TEXT: BJÖRN LEFFLER

 

Das Haus

Dieser seichte Wind, das leichte, hintergründige Rauschen der Bäume, in sattes grün getaucht. Das wird sich nie ändern, immerhin. Es kommt immer wieder. Eine der wenigen Konstanten, die einem bleiben. Oder, würdest du mir jetzt auch wieder widersprechen? Nicht, dass du denkst, mir wäre diese Zeit zu schnelllebig. Die Gesellschaft zu brutal oder die Zukunft zu unsicher. Nein, zu dieser Fraktion gehöre ich nicht. Dieses Gerede, weißt du, ich kann es kaum mit anhören. Bernhard fing letztens davon an, bei der Skatrunde. Kennst du ihn noch? Sicher kennst du ihn noch.

Dein Erinnerungsvermögen, gerade was Gesichter angeht, war immer unglaublich. Und obwohl er so aufgedunsen und heruntergekommen ist, würdest du ihn immer noch erkennen. Er hat endlich diese hässliche Augenklappe abgelegt. Jetzt trägt er Glasauge. Irgendwann an diesem Abend habe ich aufgehört, mit ihm diskutieren, habe nicht mehr zugehört. Ich wollte es nicht hören, ich ging einfach. Die Jungs waren etwas verdutzt und hatten durchaus gemerkt, dass ich mich
ärgere. Aber Bernhard konnte partout meinen Standpunkt nicht verstehen. Er wollte es nicht.

Als ich schon Hut und Mantel im Arm hatte und in seiner Eingangstür stand, sah er mich mit seinem linken Auge noch immer verständnislos an. Dann kam auch Rolf noch hinterher. Er ist unser kluger Kopf, spricht immer sehr weise, obwohl er nicht einmal sechzig ist. Du würdest ihn mögen. Nur leider ist er zu still, viel zu still. Von den Stillen hatten wir schon immer zu viele, nicht wahr?

„Bernhard, verstehst du nicht?“ habe ich gesagt, „Keine Zeit war je schnelllebiger als unsere. Zwölf Jahre, einmal Herrenrasse und zurück. Weißt du, keine Gesellschaft war je brutaler und auf ihre Weise gleichgültiger als die Gesellschaft unserer Zeit. Und wann war eine Zukunft je unsicherer? Wann war sie unsicherer als im Zeitalter dieser Diktatur? Aber mit deinem verkrampften Glauben an unseren „heiligen Führer“ hast du uns schon damals verdammt genervt, Bernhard! Du warst wahrscheinlich einer der wenigen, die ein Deutsches Reich am Ural für sinnvoll hielten. Irgendwie hätte das schon seine Richtigkeit gehabt, nicht wahr, Bernhard?“

Dann bin ich gegangen. Ja, ich habe es tatsächlich gesagt. Ich habe mich verändert, Peter. Aber ich war auch so furchtbar wütend. Da musste es einfach mal raus. Ich weiß gar nicht, wie lange ich das schon mit mir herumgetragen hatte. Aber es war eine ziemlich lange Zeit, glaub mir.

Weißt du noch, wie der Platz im regen wirkte? Wenn die Wolken vorüberzogen waren und der dampfende Asphalt im schwülwarmen Kessel langsam aufstieg? So war es oft im Sommer, nicht wahr? Und nie hatten wir eine Kamera dabei. Weißt du noch, als wir einmal diesen tollen Fotoband mit diesen verwunschenen Bildern des nächtlichen Paris gefunden hatten? Sie faszinierten uns, diese unglaublich atmosphärischen, dichten Kunstwerke. Sie waren geradezu magisch. Es war dein Traum, solche Bilder auch hier zu machen. Einen solchen Bildband herauszubringen. Wie hieß doch gleich der Fotograf? Ich vergesse es immer wieder. Du wüsstest es ganz sicher. Wie du so vieles wusstest.

Wir hatten schon sechs Tage ausgehalten. Aber Tempelhof war nicht mehr zu retten. Wir alle wussten das. Wir nahmen innerlich Abschied von Berlin. Es war ein solcher Schock für mich, verstehst du? Sicher verstehst du das. Es waren nicht einmal vier Wochen und schon hatte ich soviel Elend und Tod gesehen wie ich es mir nie hatte ausmalen können. Ich hatte immer versucht, deine Briefe zu verstehen, mich in deine Lage zu versetzten. Aber als es soweit war, traf es mich wie ein Hammerschlag. Und wir waren alle so unglaublich jung, Peter.

Wir waren auf dem Rückzug, liefen führungslos in Richtung Hallesches Tor. Die Sonne schien. Und für einen Moment war es ungewöhnlich still. Die Russen gönnten uns eine kurze Pause. Dein Blick war so leer. Dein Gesicht so staubig und abgemagert. Erst sah ich dich gar nicht, es waren so viele resignierte Soldatengesichter, in die ich an diesem Nachmittag schon gschaut hatte. Dann erkannte ich dich, glaubte es aber nicht.

Warum sah ich nicht in die andere Richtung, Peter? Dann hätte ich dich übersehen.

Sie haben es abgerissen, Peter.
Das Haus an dem du lehntest.

1964. Einfach weg.

Teil 1 und 2 der Serie findet Ihr hier.
DIE ILLUSTRATIONEN ZUR GESCHICHTE SIND VON LUCIA BONTJER. MEHR ÜBER LUCIA ERFAHRT IHR HIER.

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