Unter dem Titel ‚“Keine Illusionen irgendwelcher Art…” – Briefe aus Berlin 1943 bis 1948‘ hat der Mitteldeutsche Verlag die beeindruckende Briefsammlung des Wirtschaftsjuristen Reinhart von Lucius veröffentlicht. Die Texte ermöglichen es dem Leser auf persönliche und bildhafte Art, in den vom Krieg geprägten Alltag des Berlins der 1940er Jahre einzutauchen.

Berlin im Juli 1944: Das durch einen Luftangriff zerstörte Gebäude des Scherl-Verlages in der Jerusalemer Straße, Ecke Zimmerstraße / © Foto: Bundesarchiv Bild 183-J30142 / Wikimedia Commons

© Foto Titelbild: Mitteldeutscher Verlag
© übrige Fotos: Wikimedia Commons

Text: Michael Klotz

 

„Ich will dir in Stichworten angeben, was in Berlin vernichtet ist, es handelt sich hierbei nur um Teilangaben derjenigen Sachen, die ich selbst gesehen habe. (…) Schlösser Charlottenburg, Bellevue, Monbijou, Kaiser Wilhelm I.; Banken (Hauptverwaltungen) Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank. Die Achse vom Bahnhof Tiergarten bis Opernhaus Charlottenburg (…) nahezu 100%.“

So nüchtern listet Reinhart von Lucius im Brief an seine Frau im November 1943 die starken Zerstörungen des letzten Luftangriffes auf, um anschließend aber zu berichten, dass es ihm und der gemeinsamen Wohnung gut gehe.

Jurist Reinhart von Lucius dokumentiert in Briefen an seine Frau Berlins Zerstörung

Im Vorwort des Buches wird passend die Frage formuliert, wie man in der damaligen  Zeit überlebte, nicht nur physisch, sondern auch psychisch, angesichts der praktisch omnipräsenten Zerstörung, Unsicherheit und Todesgefahr. Die Korrespondenz zwischen Herrn von Lucius und seiner Frau, herausgegeben vom gemeinsamen Sohn des Ehepaars, Robert von Lucius, gewährt einen in dieser Form seltenen Einblick in eine Zeit voller Extreme, der es schafft, auf die eingangs gestellte Frage Antworten zu finden.

Die Briefe fanden sich erst rund zwanzig Jahre nach dem Tod des Vaters im Familienarchiv und wurden vom Herausgeber selektiert, es sollte in diesem Buch primär um Leben und Überleben in Berlin gehen, weswegen zu persönliche Informationen und organisatorische Themen bewusst ausgelassen wurden. Des Weiteren finden sich im Buch nicht nur Briefe adressiert an die beiden Ehepartner, sondern immer wieder auch Schreiben der beiden Mütter oder vereinzelt auch anderer Verwandter.

intensiver Briefwechsel als Zeitdokument: Berlin in den Jahren 1943 bis 1948

Neben dem ausgewählten zeitlichem Rahmen, 1943 bis 1948, ist die Sammlung auch deshalb so lesenswert, weil der Großteil der Briefe ergänzt ist um Erklärungstexte mit zeithistorischen oder familienrelevanten Hintergrundinformationen. Aber auch Fotos wichtiger Dokumente und eindrücklicher Szenen aus Berliner Straßen sind im Buch zu sehen und helfen dabei, die geschilderten Ereignisse einzuordnen oder beschriebene Emotionen nachzuempfinden.

Dass das Buch einen Zeitraum über das Ende des Krieges hinweg abdeckt, ist fast schon ein Alleinstellungsmerkmal, da zwar viele Film- und Fotoaufnahmen des zerstörten Berlins existieren, jedoch kaum veröffentlichte Briefe mit den persönlichen Eindrücken und Erlebnissen der damaligen Bewohner. So wird es möglich, das Überleben kurz nach der Befreiung, mit all seinen alltäglichen Problemen, ungeschönt aus der Innensicht der Zeitzeugen zu erleben.

Berlin während und nach dem Krieg: Ungeschönte Berichte von Zeitzeugen

Zwar galt es nun nicht mehr, vor Brand und Bomben zu fliehen, jedoch musste wegen der allgegenwärtigen Zerstörung, des entstandenen Machtvakuums und der fehlenden staatlichen Organisation, weiterhin gegen Hunger und Kälte gekämpft werden.

Die Nahrung spielt daher in den Texten oft eine dramatisch zentrale Rolle. So schreibt von Lucius im November 1945 beispielsweise an seine Frau: „Seit sieben Monaten oder länger haben wir nicht bekommen: Eier, Käse, Milch, Marmelade, Speck oder dergl., Teigwaren (Nudeln oder dergleichen), Fisch usw., Kuchen oder dergleichen. In dieser Zeit haben wir ein einziges Mal ein Stückchen Butter erhalten.“

Ein lesenswerter Einblick in eine extreme, von Unbrüchen geprägte Epoche

Nichtsdestotrotz zeigen uns die Briefe aber eben auch, wie man es schafft, diese Herausforderungen zu meistern: Die leicht ironisch untertreibende Art Herrn von Lucius findet sich über praktisch den gesamten Zeitraum hinweg in den Texten wider und auch sein ausgeprägter Kulturhunger wird nur kurz vor Ende des Krieges von eben jenem unterbrochen.

Das vorliegende Werk ist ein wirklich lesenswerter Einblick in ein extremes, desaströses und von Umbrüchen geprägtes Stück Berliner Stadtgeschichte und ist deswegen sowohl für das Fachpublikum als auch für allgemein Interessierte eine echte Leseempfehlung.

Das Buch könnt Ihr für 14,00 EUR hier bestellen.

 

Weitere Bilder zum Buch findet Ihr hier:

Fast vollständig zerstört: Die Ruine des Kaufhauses Karstadt am Hermannplatz am 30. April 1945 / © Foto: Fotothek df pk / Wikimedia Commons

 

Keine Illusionen irgendwelcher Art…
Briefe aus Berlin 1943 bis 1948

Herausgeber: Robert von Lucius / Mitteldeutscher Verlag
Umfang: 130 × 200 mm, 152 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen
Ausstattung / Art: Taschenbuch / Sachbuch
Sprache: deutsch
ISBN 978-3-96311-377-2

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