Seit vielen Jahrzehnten dominiert das private Auto den öffentlichen Raum deutscher Städte. Eine kreativ-wissenschaftliche Allianz will die Nutzung des öffentlichen Straßenraums nun radikal neu denken: Das “Manifest der freien Straßen” beschreibt in mehreren Thesen eine mögliche Zukunft für die Menschen in der Stadt, wenn der urbane Raum gänzlich neu gedacht wird.
© Visualisierungen: paper planes e.V. / Manifest der freien Straße
(Weitere Visualisierungen am Ende des Textes)
Text: Björn Leffler
Eines der am häufigsten diskutierten Themen in Berlin ist die zukünftige Nutzung des öffentlichen Straßenraums. Ob es um die Schaffung geschützter Radwege, neuer Fußgängerzonen, den Ausbau der Stadtautobahn oder sogar deren Rückbau geht: Immer deutlicher wird die Tatsache, dass viele Menschen die Nutzung des öffentlichen Straßenraums neu und anders denken wollen, während andere ihn am liebsten genauso belassen möchten, wie er heute ist.
Der Verein Paper Planes, der bereits im August 2021 mit dem außergewöhnlichen Vorschlag auffiel, die neu entstehende Autobahn A100 in eine City-Farm umzuwandeln, hat nun gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Technischen Universität Berlin ein umfassendes Manifest erarbeitet, um völlig neue Denkansätze für die Nutzung des öffentlichen Raums sichtbar zu machen.
“Allianz der freien Straßen”: Urbane Räume völlig neu denken
Diese drei Institutionen haben sich im Rahmen dieser Projektarbeit zur “Allianz der freien Straße” zusammengetan. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist die vorangestellte These, dass nahezu jede Straße in jeder deutschen Stadt mit Autos zugeparkt sei, die im Durchschnitt mehr als 23 Stunden täglich herumstünden.
Geht es nach den Vorstellungen der Autorinnen und Autoren dieses Manifests, welches im Laufe des Sommers auch als Buch veröffentlicht werden soll, sind in der Zukunft ökologisch-nachhaltige Verkehrsträger wie Fahrräder oder geteilte Mobilitätsformen (Öffentlicher Nahverkehr und Sharing-Angebote) der neue Normalzustand.
Private Autos sollen zukünftig zur Ausnahme statt zur Normalität werden
Private Autos sollen demnach nur noch von Menschen genutzt werden, die wirklich darauf angewiesen sind. Den Gewinn für die Nachbarschaft, die Gesundheit der Menschen sowie den Kampf gegen den Klimawandel schätzen die Forscherinnen und Forscher als enorm ein.
Aber auch die Volkswirtschaft würde in vielerlei Hinsicht von der schrittweisen Umsetzung des Manifests profitieren, behaupten die Initiatoren. Denn der freiwerdende Straßenraum könne mittels Pavillons als Fernarbeitsplatz, für die Infrastrukturversorgung oder für Werk- und Produktionsstätten genutzt werden.
Unabhängigkeit von globalen Krisen durch Transformation des Straßenraums
Durch eine derartige Transformation des Straßenraums könnten nicht nur viele, zeitintensive Pendlerwege eingespart werden, sondern deutsche Städte auch ein Stück weit Unabhängigkeit von globalen Krisen erlangen. Hohe Benzinpreise oder Treibstoffmangel würden weniger ins Gewicht fallen.
Das Manifest belässt es aber nicht bei der bloßen Konzeption einer nachhaltigeren Stadt der Zukunft, sondern gibt mit den Politik- und Beteiligungsthesen am Ende auch konkrete Handlungsempfehlungen, wie politischer Wille und Bürgerbeteiligung angegangen werden sollten. In insgesamt sieben Thesen beschäftigt sich das Manifest eingehend mit den Themen Nachbarschaft, Mobilität, Wirtschaft, Gesundheit, Klima, Politik und Beteiligung.
Sieben Thesen beleuchten völlig neue Nutzungsmöglichkeiten des Straßenraums
So heißt es beispielsweise in der Nachbarschaftsthese: “Seit Mitte des 20. Jahrhundert hat der öffentliche Raum einen enormen Bedeutungsverlust erfahren. Die Massenmotorisierung und die moderne Trennung der verschiedenen Lebensbereiche haben den städtischen öffentlichen Raum für uns komplett verändert. Es geht vorwiegend nur noch darum, ihn zu durchqueren und schnell von A nach B zu kommen.”
Um diesen Zustand zu verbessern oder gänzlich zu überwinden, sollen die Straßen nach den Vorstellungen der Allianz “befreit” werden, was vollkommen unterschiedliche, zukünftige Nutzungen zur Folgen haben kann: “Die Gestaltung der jeweiligen befreiten Straße spiegelt die Bedürfnisse der Anwohnenden wider und folgt gleichzeitig einem eigenen Rhythmus von Enge und Weite, von Rückzugsmöglichkeiten und Präsentationsflächen, von fest Installiertem und Temporärem.”
ÖPNV, Fahrräder, E-Roller und Sharing-Angebote sollen dominieren
Die zukünftige Mobilität im urbanen Raum stellen sich die Planerinnen und Planer wie folgt vor: “Wenn befreite Straßen kein Einzelfall mehr sind, sondern so selbstverständlich wie rauchfreie Restaurants, wird sich der Bestand an Autos insgesamt drastisch verringern. Ein eigenes Auto wird zur Ausnahme. Braucht man mal eins, sind genügend günstige Sharing-Fahrzeuge in der direkten Umgebung verfügbar.”
Dominieren sollen zukünftig der kostengünstige, öffentliche Nahverkehr, E-Roller, Fahrräder und wenige Autos, die über Carsharing-Angebote genutzt werden können. Routen-unabhängige Sammeltaxis, Spezialgefährte für Menschen mit körperlichen Einschränkungen aber auch Rettungs-, Baufirmen- und Logistikfahrzeuge sollen die Straßen aber auch weiterhin befahren dürfen.
Positive Auswirkungen auf das Klima wären die Folge
Von der neu gewonnen Vielfalt an Spieloptionen und Rückzugsmöglichkeiten und vor allem von der besseren Luft sollen auch die Kinder der Gesellschaft profitieren. Der weite, öffentliche Raum soll so abwechslungsreich und lebendig werden, dass sich die Menschen gern und häufig darin aufhalten. Es ist unnötig, zu erwähnen, dass die Macher des Konzepts auch mit den großen, klimatischen Vorteilen werben.
Ob das “Manifest der freien Straße” eine utopische Zukunftsvision oder ein realistisches Szenario ist, kann jeder selbst bewerten. Möglichkeiten dafür gibt es viele. Entweder auf der offiziellen Internetpräsenz des Vorhabens, wo alle sieben Thesen detailliert ausgearbeitet sind, oder bei einem Besuch im Experience Lab in der Forsterstraße 52 in Berlin-Kreuzberg.
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