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Symposium: Der lange Abschied von der autogerechten Stadt

Unter dem Motto “Stadt. Weiter. Denken – Der lange Abschied von der autogerechten Stadt” hatte der AIV zu Berlin-Brandenburg am vergangenen Samstag zu einem Symposium geladen. Verkehrsexperten aus ganz Deutschland nahmen an der Veranstaltung in Berlin-Friedrichshain teil.

Stadtentwicklungsexperten aus ganz Deutschland waren angereist, um mit ihren Beiträgen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln das Thema Mobilitätswende zu beleuchten. / © Foto: ENTWICKLUNGSSTADT BERLIN

© Foto Titelbild: Depositphotos.com
Text: Wolfgang Leffler

 

Unter dem Motto “Stadt. Weiter. Denken – Der lange Abschied von der autogerechten Stadt” hatte der AIV zu Berlin-Brandenburg am vergangenen Samstag zu einem Symposium an einem schon ungewöhnlichen, aber doch bemerkenswerten Ort in Berlin-Friedrichshain geladen.

Das Event fand im ‚Freiraum in der Box‘ statt, einem ehemaligen Pferdestall eines bekannten Berliner Fuhrunternehmens, mittlerweile ein Ruhepunkt und eine Veranstaltungsstätte auf dem Hinterhof in einer grünen Oase der Boxhagener Straße.

Es standen interessante Themen und Vortragende auf der Agenda, immerhin aus ganz Deutschland angereist, die mit ihren Beiträgen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln das Thema beleuchteten und ihre bereits angelaufenen oder in Planung befindlichen Projekte ausführlich darstellten.

Demonstration gegen die Verkehrspolitik des Berliner Senats im Juli 1972

 Nach kurzer Einleitung und Begrüßung durch den AIV-Vorsitzenden Tobias Nöfer und den Grußworten von Arnold Ernst, dem AIV-Vorstandsvorsitzenden, ergriff als erster Redner Prof. Dr. Harald Bodenschatz, ehemaliger Professor für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin, das Wort und referierte über den ‚langen Abschied von der Idee der autogerechten Stadt‘.

In einem theoretisch sehr anschaulich aufbereiteten Vortrag stellte er die einzelnen Entwicklungsschritte zur autogerechten Stadt hin dar, die ihre Anfänge in der Weimarer Republik hatten und in dieser Zeitspanne vorbereitet wurden. Darüber hinaus beleuchtete er die Umsetzung in den 1950er und 1960er Jahren und die “Krisenjahre” in den 1970er Jahren.

Mit der Aufzählung der einzelnen, auch internationalen Publikationen, in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen bis hin zur ersten großen Berliner Demonstration am Kurfürstendamm im Juli 1972, wo ein Bürgerkomitee gegen die Verkehrspolitik des Berliner Senats demonstrierte, spannte Harald Bodenschatz den Bogen weiter bis zur Münchner Ausstellung 1986 zum Thema ‚Albtraum Auto‘. Damit unterstrich er, dass die Diskussionen zur Abwendung von der ‚autogerechten Stadt‘ also schon mindestens 40 Jahre anhält und nun der Prozess zum Abschied davon endgültig eingeleitet werden sollte.

Verkehrsraum ist Öffentlicher Raum

Stefan Bendiks von der TU Graz, Architekt und Geschäftsführer Artgineering (Brüssel), stellte seine internationalen Projekte und Erfahrungen zum Thema ‚Verkehrsraum = Öffentlicher Raum‘ anhand  praktischer Beispiele vor und benannte die sechs Aspekte des ‚traffic space ist public space‘ als Handbuch zur Transformation.

Bendiks betonte die Chance, durch Umverteilung von Raum und Privilegien neue Prioritäten sowohl bei der Gestaltung des öffentlichen Raums als auch der Verkehrsführung zu setzen.

Erfolgsrezept “Verknüpfung von Verkehrsräumen”

Das Erfolgsrezept sei die ‚Verknüpfung von Verkehrsräumen‘. Später ergänzte er dazu weiter mit den Begriffen ‚Metabolismus‘ und ‚Frugalität‘, sprich einfache Ästhetik. Zur Transformation der öffentlichen Räume brauche es laut Stefan Bendiks reversible Straßenprofile mit vorgegebenen Zeitfenstern.

Zum Thema ‚Städtebau und Stadtentwicklung im Zeichen der Verkehrswende‘ sprach Franz-Josef Höing, Hamburger Oberbaudirektor. In einem sehr ehrlichen Vortrag wies er darauf hin, dass noch ein sehr langer Weg vor uns liegt und die mentalen Hürden noch lange nicht überschritten sind.

Autoverkehr: Nur Verzicht predigen ist falsch

Man könne laut Höing nicht immer nur vom Verzicht (auf das Auto) predigen, sondern müsse gleichzeitig große Infrastrukturprojekte, speziell im Schienenverkehr, umsetzen. Man müsse ‚mehr Stadt in der Stadt wagen‘. Das bedeutet, dass bei neuen Projekten ein ‚gestalterischer Mehrwert‘ abgewonnen werden müsse. Die bestehende Stadt müsse man ‚fit machen‘, denn es werde auch weiterhin auf großen Straßen Verkehr geben.

Höing belegte das an Beispielen der Hamburger Innenstadt, die sich momentan im Wandel befände und nannte als Beispiele den Hamburger Hauptbahnhof und das Areal rund um das Berliner Tor. Aber zur Wahrheit gehöre eben auch, dass politische Konstellationen und subjektive Einflussgrößen bei der Umsetzung solcher Projekte eine große Rolle spielen. Ein Hinweis, der von den Beteiligten mit einem wohlwollenden Applaus gewürdigt wurde.

Innerstädtische Flächen neu denken und planen

Aus der bayrischen Landeshauptstadt München referierte Gisela Karsch-Frank, Referat für Stadtplanung und Bauordnung, sowie Bereichsleitung Grünordnung und Freiraumkonzepte zum Thema ‚Das neue Freiraumkonzept für die Münchner Innenstadt‘.

Das Kernthema ihres Vortrages behandelte das Freiraumquartierkonzept mit der Darstellung aller dazu gehörigen Teilflächen, wie Grünflächen, Stadtplätze und Boulevards, Mikroplätze, Straßenräume und Verbindungen, Dachflächen, Innenhöfe und die dazugehörige ‚Blaue und Grüne Infrastruktur‘.

Letztendlich hat Frau Karsch-Frank anhand eines Leitbildes das Ziel der dortingen Verkehrswende klar herausgearbeitet – eine autofreie Münchner Altstadt mit parallel dazu umzusetzenden Fahrradprojekten und der Integration von klimaresilienten Grün- und Freiraumstrukturen.

Lebenswerte Urbanität statt Autobahntrassen im Berliner Südwesten

Robert Patzschke von Patzschke & Patzschke Architekten (Berlin) stellte die Konzeptstudie zur A 104 vor, eine Studie zur weiteren Nutzung des Straßenraums unter der A 104 mit dem Ziel, durch den Rückbau dieses Autobahnabschnittes eine lebenswerte Urbanität im Südwesten Berlins zu schaffen.

Dazu wurde bereits 1974 die Bürgerinitiative ‚Westtangente‘ initiiert, der 2012 die Bürgerinitiative ‚Breitenbachplatz‘ folgte. Im Jahr 2019 wurde dazu eine Machbarkeitsstudie ‚Rückbau der Brückenautobahn als Hochstraße‘ erstellt. Anhand eines Visualisierungsmodell wurde die räumliche Dimension des Vorhabens anschaulich dargestellt.

Immerhin reden wir hier von vier Kilometer städtebaulichem Neubauareal mit 300.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche und Potenzial für ca. 6.000 Wohnungen! Das Konzept in dieser Form wurde erstmals im Jahr 2021 vorgestellt, im Jahr 2022 erneuert und ist im neuen Koalitionsvertrag seit Februar 2023 als Projekt verankert.

Blau-Grüner Stadtkanal statt Frankenschnellweg A 73

Der Architekt Jochen Stein vom Nürnberg-Fürther Stadtkanalverein e.V. stellte eine Vision des Vereins vor, welche das Ziel verfolgt, den momentanen Autobahnabschnitt A 73 im Stadtgebiet Nürnberg-Fürth zu 44 Hektar Lebensraum für autofreie Mobilität zu transfomieren.

Radfahren und Flanieren, Stadtreparatur (Verbindung und Entwicklung der tangierten Quartiere), Klimaverbesserung (Frischluft, Kühlung, Versickerung, Bäume, Grünflächen, Wasserflächen, Entsiegelung, Schwammstadt), acht Kilometer Wasserweg auf der ursprünglichen Trasse Ludwig-Donau-Main Kanals, Gärten, Freibäder, Gastronomie, Geschäfte, Bühne, Sport (Wohnen als gerechte Stadtentwicklung von unten) – all dies soll Teil dieses ambitionierten Planungsspiels sein.

Auf der IBA Stadtkanal im Jahr 2030 soll die Umsetzung als nachhaltiges Leuchtturmprojekt mit überregionaler Strahlkraft und Langzeitwirkung vorgestellt worden. Stein bezeichnete dieses Projekt als wichtigen Baustein der Mobilitätswende in der Metropolregion Nürnberg.

Nürnberg: Realisierbarkeit des autofreien Stadtkanals ab 2038 möglich

Realisiert werden könnte es nach jetzigen Prognosen – Voraussetzung ist natürlich der politische Wille, das Schaffen von Allianzen und Netzwerken – im Jahr 2038. Dass ein solches Projekt machbar ist, zeigen Beispiele aus anderen Städten, wie Siegen, Utrecht (Niederlande) oder Seoul (Südkorea).

Etwas unklar blieb im Raum stehen, wohin der Autoverkehr ‚transformiert‘ werden solle, denn der ist nach wie vor in der Region Nürnberg, einer wirtschaftlichen Boomregion, zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht so einfach wegzudenken.

Die obsolete Stadt – typologische Vorschau auf die Innenentwicklung von Morgen

Mit einem sehr anspruchsvollen Vortrag beschrieb Herr Prof. Dipl.-Ing. Stefan Rettich von der Universität Kassel, Fachgebiet Städtebau, die momentane Situation der Flächeninanspruchnahme in Deutschland und unterstrich die allgemein vertretene These, dass es zu wenig Grundstücke für die Innenstadtentwicklung gäbe.

Er verwies anfangs auf den internationalen Bestseller zum Thema ‚Megatrends‘ von John Naisbitt, in dem die zehn Kernaussagen zum Thema bereits formuliert wurden, also mit Megatrends und funktionalen Ebenen urbaner Obsoleszenz.

Ein Schwerpunkt dieser Betrachtungen spielt natürlich der Verkehr, wo Rettich durch Modellannahmen zukünftige Entwicklungen hinsichtlich der zu Grunde gelegten Parameter, wie Handel, Mobilität, Parkplatzflächen, Verkaufsflächen, Kultur sowie Kauf- und Warenhäuser ableitete.

Kahlfeldt: Transformationsdiskussion dauert schon mindestens 20 Jahre

Mit dieser Feststellung begann Petra Kahlfeldt, Berliner Senatsbaudirektorin, ihr Abschlussplädoyer und dankte dem AIV gleichzeitig für die ausgewählten Themen, die während des Symposiums gehaltenen Vorträge und die darin aufgezeigten neuen Perspektiven, die übrigens für alle Städte und Regionen gelten, was die Klimaveränderungen sowie die in den letzten Wochen gesehenen Auswirkungen angeht.

Bezugnehmend auf Berlin sprach Kahlfeldt von einer schon speziellen Geschichte der Stadt, mit den Ereignissen ab 1840, 1870 und 1920 als auch den beiden Weltkriegen und hier hauptsächlich dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Ergebnis die Teilung Deutschlands enorme Auswirkungen auf das Land und im speziellen auf Berlin hatte.

Berlin: Großprojekte Stadteingang West und Wiederaufbau des Molkenmarkts

Als Großprojekte für die Stadt erwähnte sie den Stadteingang West, wo es erhebliche Differenzen zwischen der Stadt und der Autobahngesellschaft gibt, den ehemaligen Güterbahnhof Grunewald und natürlich den geplanten Wiederaufbau des Molkenmarkts in der Mitte Berlins.

Den Abschluss des Symposium moderierte, wie gewohnt, Herr Rudolf Spindler, der schon über den ganzen Tag hinweg das doch etwas zu lang geratene, aber durchaus konstruktive und spannende Symposium beendete.

 

Weitere Bilder zum Thema gibt es hier:

Diese Übersicht zeigt die großen, städtebaulichen Potenziale, die ein Teilabriss der Stadtautobahn im Berliner Südwesten mit sich brächte. Das Konzept dafür wurde von Robert Patzschke vorgestellt. / © Visualisierung: Patzschke Planungsgesellschaft mbH

Weitere Verkehrsprojekte sind hier zu finden

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