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Jede Zeit baut ihre Stadt.

Berlin & die Welt, Teil 3: Londons verfehlte Stadtentwicklungspolitik

In London müssen immer mehr Grundschulen schließen, da den Bezirken die Kinder ausgehen. Denn junge Familien können sich die Stadt längst nicht mehr leisten und wandern ab. Die Stadt versucht, durch sozialen Wohnungsbau gegenzusteuern, doch der Effekt verpufft. Die britische Hauptstadt wird für Normalverdiener zur unerschwinglichen Metropole, was schon jetzt zu infrastrukturellen Problemen führt. Ein warnendes Beispiel für Berlin?

Schillernde Weltmetropole London: Einer der teuersten Wohnorte der Welt ist für viele Einwohner längst unerschwinglich geworden. Wie kann die Stadt gegensteuern? / © Foto: depositphotos.com

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Text: Björn Leffler

 

Mit der wachsenden Bevölkerung in Berlin geht nicht nur ein erhöhter Wohnungsbedarf einher, sondern auch die Notwendigkeit, neue Schulen zu bauen oder bestehende Gebäude zu erweitern. Daher hat der Berliner Senat bereits vor mehreren Jahren die Berliner Schulbauoffensive ausgerufen.

In Berlin werden also an allen Ecken und Enden neue Schulen errichtet oder bestehende Standorte ausgebaut, erweitert und für höhere Schülerzahlen ertüchtigt. Das ist für alle, die in Berlin leben, ein gewohntes Bild und längst keine Neuigkeit mehr.

In Berlin sind Schulplätze knapp, in London schließen Schulen

Doch trotz aller Anstrengungen des Senats herrscht in vielen Bezirken noch immer eine große Knappheit an Schulplätzen. In London hingegen zeigt sich in den vergangenen Jahren ein gänzlich anderes Bild. Dort werden immer mehr Schulen geschlossen – weil schlicht und ergreifend die Kinder fehlen.

Diese Information mag auf den ersten Blick verwirrend klingen, immerhin leben in London knapp neun Millionen Menschen. Man dürfte also meinen, der Bedarf an Schulen sei genauso hoch wie in Berlin mit seinen immerhin knapp vier Millionen Einwohnern.

London: Die Zahl unbesetzter Schulplätze ist dramatisch angestiegen

In London aber zeigt sich aber ein gefährlicher Trend: In der gesamten Stadt klagen die Schuldirektoren über immer größere Lücken in der Schülerschaft. Im Gemeindebezirk Hackney, im Osten von London, sind insgesamt 634 Plätze unbesetzt. Zum Vergleich: vor zehn Jahren waren es nur 10 unbesetzte Plätze.

Die Bezirksregierung erwägt daher, sechs Grundschulen zu schließen oder mit anderen Institutionen zusammenzulegen. Im Stadtteil Southwark, südlich der Themse, könnten bald sogar 16 Grundschulen schließen. Die Londoner Gemeinden warnen also vor einer größeren Krise.

Hohe Wohnpreise, sinkende Geburtenraten, Brexit: London verliert Familien

Doch woher kommt der Schülerschwund? Laut einem Bericht der Financial Times gibt es mehrere Ursachen dafür. Hohe Wohnpreise, sinkende Geburtenraten, die Corona-Pandemie und der Brexit. Doch es sind vor allem finanzielle Aspekte für junge Familien, die das größte Problem darstellen.

Das Leben in der britischen Hauptstadt war schon immer sehr teuer, doch längst ist es für viele Menschen schier unerschwinglich geworden. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist so gravierend geworden, dass viele junge Londoner gezwungen sind, die Stadt zu verlassen.

London: Vor 30 Jahren waren die Wohnkosten nur halb so hoch wie heute

Laut einer Analyse der Financial Times müssen in London die 25- bis 39-Jährigen im Durchschnitt 36 Prozent ihres Nettoeinkommens für ihre Wohnkosten ausgeben. Vor 30 Jahren war es nur halb so viel. So gibt es vor allem bei jungen Menschen mit Kindern große Migrationsbewegungen in günstigere Orte im Süden Englands.

Den Londoner Bezirken fehlen damit also die Kinder, um ihre Schulen zu füllen. Und der Stadt wird auf längere Sicht schlicht und ergreifend der Nachwuchs fehlen, wenn sich dieser Trend in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch verschärft.

Immer mehr Paare verlassen die Stadt und ziehen in den Süden Englands

Da das Leben in London so teuer ist, entscheiden sich zudem immer mehr Paare dafür, keine Kinder zu haben, weil sie sich eine größere Wohnung schlichtweg nicht leisten können. Auch dies sind keine guten Nachrichten für die Zukunftsperspektiven der Stadt.

Zudem haben seit dem Brexit-Referendum im Jahr 2016 viele Familien – genaue Zahlen gibt es nicht – der britischen Hauptstadt den Rücken gekehrt und sind in ihre Heimatländer in der Europäischen Union zurückgekehrt. Auch hier haben die Schulen viele Kinder verloren.

In London sind derzeit 170.000 Menschen ohne Wohnung

Laut einem aktuellen Bericht der ZEIT sind in London derzeit 170.000 Menschen wohnungslos. Sie versuchen, bei Freunden oder Bekannten unterzukommen, da sie sich eine normale Wohnung auf dem Londoner Wohnungsmarkt schlicht und ergreifend nicht leisten können.

Der Bedarf an staatlich finanzierten Sozialwohnungen ist also groß, doch in London gibt es nur eine sehr geringe Zahl solcher Wohnungen. Eine solche zu ergattern gleicht einem Lottogewinn. Londons Bürgermeister Sadiq Khan versprach daher kürzlich, ein massives Bauprogramm für Sozialwohnungen aufzulegen.

Seit 2017 sind in London 23.000 neue Sozialwohnungen entstanden

Seit 2017 seien laut Khan insgesamt rund 23.000 neue Sozialwohnungen entstanden. Eine spürbare Entlastung auf dem Londoner Immobilienmarkt für Mietwohnungen ist dadurch aber kaum zu spüren.

Wissenschaftler Paul Watt von der University of London hat aufgrund der Entwicklung in den letzten Jahren längst Alarm geschlagen. Er sagte in einem Gespräch mit der Berliner Morgenpost: “Das Ganze ist wie ein Zugunfall in Zeitlupe, der seit über vier Jahrzehnten andauert.

Die Entwicklung des Immobilienmarktes reicht in die 1980er Jahre zurück

Die Entwicklung reicht zurück in die Zeit von Premierministerin Margaret Thatcher, also bis in die 1980er Jahre. Ihr extrem marktwirtschaftlicher Ansatz wirkte sich auch auf dem Immobilienmarkt sehr schnell aus.

Thatcher führte das umstrittene “Right to buy” ein, welches es Mietern von Sozialwohnungen ermöglichte, ihre Wohnung mit hohen Rabatten zu kaufen. Dies führte dazu, dass die Zahl der Sozialwohnungen in Großbritannien von ehemals sechs Millionen (Anfang der 1980er Jahre) auf heute nur noch 2,8 Millionen geschrumpft sind.

Viele ehemalige Sozialwohnungen sind heute teure Privatwohnungen

Viele der einstigen Sozialwohnungen sind heute Teil des überwiegend hochpreisigen, privaten Immobilienmarktes. Das “Right to buy” gibt es übrigens bis heute, das Gesetzt wurde bislang nicht reformiert. Tatsächlich ist das Thema Mieterschutz in England kaum bekannt, Mietverträge werden häufig nur extrem kurzfristig – mit Laufzeiten zwischen sechs und zwölf Monaten – abgeschlossen.

Bei Vertragsverlängerungen sind dann häufig Mietsteigerungen die Folge. Da auch die Preise für Wohneigentum extrem in die Höhe geschnellt sind, kehrten und kehren viele Normalverdiener der Metropole London längst den Rücken.

Neue Wohnungen werden an internationale Käufer vertrieben

So ist es zur Normalität geworden, dass neue oder auch bestehende Wohnungen an Käufer aus aller Welt vertrieben werden, die nur gelegentlich in London zu Gast sind. Krankenhäuser, Polizeireviere oder Feuerwehren haben hingegen das Problem, dass ihre Angestellten überwiegend in den noch halbwegs erschwinglichen Außenbezirken Londons wohnhaft sind und sie daher lange Arbeitswege in Kauf nehmen müssen.

Doch auch dieses Klientel kehrt der Stadt mehr und mehr den Rücken und sucht sich Arbeit und Wohnraum in anderen Städten Englands oder im Ausland, wo die Lebensbedingungen für sie und ihre Kinder erträglicher sind. Der turbokapitalistisch ausgerichtete Londoner Wohnungsmarkt droht nun also die fundamental wichtige Infrastruktur der Stadt auszuhöhlen.

Quo Vadis, London? Für Berlin ein warnendes Beispiel

Auf die Stadtplanerinnen und Stadtplaner der englischen Hauptstadt kommen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten also große Herausforderungen zu, wenn sich London nicht zu einer dysfunktionalen Megametropole entwickeln soll.

Wenn bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit niedrigem oder mittelmäßigem Einkommen fehlt, fehlen irgendwann auch die Menschen, die in den wichtigen Dienstleistungs- und Versorgungsbereichen tätig sein sollen. Es wird spannend zu beobachten sein, welche Richtung die britische Hauptstadt in den kommenden Jahren einschlagen wird.

 

Weitere Bilder zum Thema findet Ihr hier: 

Für Normalverdiener überhaupt noch bezahlbar? Wohnhäuser in der britischen Hauptstadt London. / © Foto: depositphotos.com

Quellen: Wikipedia, Berliner Morgenpost, Financial Times, ZEIT, Der Spiegel

 

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